Klack – die Kühlschranktür geht zu. Schon wieder.

Gestern Abend stand Thomas wieder mal vor dem Kühlschrank und machte dieses Geräusch. Ihr wisst schon – dieses halb Seufzen, halb Stöhnen, das Männer machen, wenn sie etwas entdecken, was sie lieber nicht gesehen hätten. "Die Paprika", sagte er nur und hielt eine Plastiktüte hoch. Was mal eine rote Paprika war, hatte sich in etwas verwandelt, das aussah wie ein wissenschaftliches Experiment.
"Die wollten wir doch für den Salat nehmen", sagte ich. Wollten. Das Wort unserer Küche. Wir wollten Hummus selbst machen. Wir wollten endlich mal wieder Sushi rollen. Wir wollten die eingefrorenen Beeren zu Marmelade verarbeiten. Die liegen seit letztem Sommer im Gefrierfach. Oder war es vorletzter Sommer?
Es ist schon verrückt, wie unser Kühlschrank zu einer Art Archiv unserer guten Vorsätze geworden ist. Jedes vergammelte Gemüse erzählt eine Geschichte von einem Montag, an dem wir dachten: Diese Woche kochen wir jeden Tag frisch! Jedes verschimmelte Glas ist ein Zeuge unserer Sonntagsschwüre: Ab jetzt verwerten wir alle Reste!
Die Zahlen sind übrigens erschreckend. In Deutschland werden pro Person und Jahr etwa 75 Kilogramm Lebensmittel weggeworfen. Das meiste davon – etwa 34 Prozent – ist Obst und Gemüse. Wir sind also nicht allein mit unserer Paprika-Tragödie. Das macht es nicht besser, aber irgendwie... normaler?
Thomas hat mal versucht, das wissenschaftlich anzugehen. Er ist Ingenieur, für ihn muss alles messbar und optimierbar sein. "Wir dokumentieren einfach, was wir wegwerfen", schlug er vor. "Dann sehen wir Muster und können gegensteuern." Die Excel-Tabelle existiert noch irgendwo auf seinem Laptop. Drei Einträge hat sie. Tag eins: halbe Gurke. Tag zwei: Joghurt (abgelaufen). Tag drei hat er vergessen. Die Tabelle auch.
Das Problem fängt schon beim Einkaufen an. Samstags stehen wir im Supermarkt, vollgepumpt mit Motivation. Der Wagen füllt sich mit frischem Gemüse, Bio-Hähnchen, diesem teuren Käse vom Marktstand. "Diese Woche wird alles anders", denken wir. Die Verkäuferin an der Käsetheke kennt uns mittlerweile. "Der Manchego?", fragt sie schon, bevor wir was sagen. Wir nicken. Immer derselbe Käse, immer dieselben guten Vorsätze.
Psychologen nennen das "Optimism Bias" – wir überschätzen systematisch unsere zukünftigen Fähigkeiten. Beim Einkaufen sind wir die bessere Version von uns selbst. Die, die jeden Abend kocht. Die, die sonntags Meal Prep macht. Die, die tatsächlich die Rezepte aus den Kochbüchern nachkocht, die sich im Regal stapeln.
Die Realität sieht anders aus. Montag sind wir motiviert, kochen tatsächlich das geplante Hähnchen-Curry. Dienstag... naja, Dienstag hatten wir einen schlechten Tag, also Pizza. Mittwoch Reste vom Montag. Donnerstag? "Mir ist nicht nach Kochen", sage ich. "Mir auch nicht", sagt Thomas. Wir essen Brot mit Käse. Der Brokkoli, der für Donnerstag geplant war, wandert nach hinten in den Kühlschrank. In die Todeszone, wie Thomas sie nennt.
Unser Kühlschrank hat nämlich verschiedene Zonen. Vorne ist die aktive Zone – da steht, was wir wirklich essen. Butter, Milch, der Senf, den Thomas auf alles schmiert. Die Mitte ist die Hoffnungszone – Sachen, die wir vielleicht noch essen. Vielleicht. Und hinten... hinten ist Mordor. Da wandert nichts hin, was jemals lebend wieder rauskommt.
Letzte Woche hab ich eine Großreinigung gemacht. Eine richtige. Mit allem raus, Fächer waschen, neu sortieren. Ich fand Sachen... mein Gott. Ein Glas Pesto von 2022. "Selbstgemacht!", stand auf dem Etikett, in meiner Handschrift. Ich erinnerte mich dunkel an einen Sonntag, Basilikum vom Markt, die Küchenmaschine, die fast explodiert wäre, weil ich zu viele Pinienkerne reingetan hatte.
Die Ironie dabei: Wir kaufen ständig neues Pesto. Das selbstgemachte war für "besondere Gelegenheiten". Welche besonderen Gelegenheiten? Keine Ahnung. Der Besuch der Queen vielleicht. Die kommt ja bekanntlich oft spontan vorbei.
Es gibt übrigens einen Begriff dafür: "Aspirational Buying" – Kaufen für die Person, die wir gerne wären. Der Bio-Grünkohl ist nicht für uns, wie wir sind. Er ist für die Version von uns, die grüne Smoothies zum Frühstück trinkt. Die Chiasamen sind für die Menschen, die wir sein könnten, wenn wir nur wollten. Spoiler: Wir wollen offenbar nicht genug.
Thomas und ich haben verschiedene Strategien entwickelt, mit der Schuld umzugehen. Er ist der Verdränger. "Ist doch nur eine Paprika", sagt er und wirft sie weg, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich bin die Wiedergutmacherin. Für jede weggeworfene Paprika schwöre ich, nächste Woche besser zu planen. Das tu ich dann auch. Plane alles durch. Schreibe Listen. Und dann kommt das Leben dazwischen.
Das Leben – damit meine ich: Der Chef, der um fünf vor Feierabend noch ein "kurzes Meeting" anberaumt. Die Waschmaschine, die mittendrin den Geist aufgibt. Die Freundin, die spontan vorbeikommen will. Der Abend, an dem wir einfach zu müde sind, um mehr zu tun als eine Dose Ravioli warm zu machen.
Wissenschaftler haben herausgefunden, dass wir im Durchschnitt nur 60 Prozent der frischen Lebensmittel verbrauchen, die wir kaufen. Bei Haushalten mit Kindern ist es etwas besser – da wird mehr gegessen, was auf den Tisch kommt. Wir haben keine Kinder. Wir haben einen Kühlschrank voller Möglichkeiten, die zu Biomüll werden.
Neulich waren wir bei Freunden eingeladen. Deren Kühlschrank – ich durfte mal reinschauen, als ich Eiswürfel holte – war quasi leer. Ein bisschen Milch, Butter, drei Äpfel. "Wir kaufen jeden Tag frisch", erklärte Marie. "Nur was wir brauchen." Jeden Tag einkaufen? Das klang für mich wie eine Strafe. Aber ihr Biomüll war winzig. Unserer quillt donnerstags über.
Die Franzosen machen das übrigens oft so – tägliches Einkaufen, kleine Mengen, frisch verbrauchen. In Frankreich werden pro Kopf nur etwa 29 Kilo Lebensmittel im Jahr weggeworfen. Das ist weniger als die Hälfte von dem, was wir Deutschen schaffen. Liegt vielleicht auch an der Esskultur. Bei denen ist Essen ein Event, bei uns oft nur Nahrungsaufnahme zwischen zwei Terminen.
Thomas hatte mal die Idee mit dem Wochenplan. Richtig durchorganisiert, mit festen Gerichten für jeden Tag. Das hielt genau eine Woche. Am Montag der Woche zwei saßen wir da, starrten auf "Linseneintopf" und bestellten Sushi. Der Wochenplan hängt noch am Kühlschrank. Als Mahnung. Oder als Dekoration. Je nachdem, wie man es sieht.
Was wirklich funktioniert – manchmal – ist die Reste-Verwertung. Aber nicht geplant, sondern aus der Not geboren. Wenn am Donnerstag der Kühlschrank voll ist mit Sachen, die "weg müssen", dann werden wir kreativ. Letzte Woche hatten wir: eine halbe Zucchini, drei Kartoffeln, ein Rest Feta und diese eine Tomate, die schon weiche Stellen hatte. Thomas nannte es "Bauernpfanne Surprise". War gar nicht schlecht. Würden wir wieder machen. Werden wir nicht.
Das ist ja das Verrückte: Wenn wir improvisieren müssen, klappt es oft. Wenn wir planen, scheitern wir. Vielleicht sollten wir aufhören zu planen? Einfach kaufen, was uns gerade einfällt? Aber dann landen wir wieder bei fünf Packungen Nudeln und nichts zum Draufmachen.
Die Supermärkte machen es einem auch nicht leicht. Diese Familienpackungen! "Spar-Pack" steht drauf. Drei Paprika zum Preis von zwei. Natürlich nehmen wir die. Wir brauchen zwar nur eine, aber... es ist ein Angebot! Unser Gehirn ist evolutionär darauf programmiert, Schnäppchen zu machen. Früher sicherte das das Überleben. Heute sichert es volle Biomülltonnen.
Meine Mutter hat früher gesagt: "Man wirft kein Essen weg." Sie ist nachkriegsgeprägt, hat Hunger erlebt. Für sie ist jede weggeworfene Kartoffel eine Sünde. Wenn sie wüsste, was wir alles wegwerfen... aber sie weiß es. Mütter wissen sowas. Sie sagt nichts, aber ihr Blick, wenn sie unseren Kühlschrank öffnet, sagt alles.
Das Gefrierfach ist übrigens ein eigenes Kapitel. Die Tiefkühltruhe der verdrängten Schuld. Da liegen Sachen drin... Thomas hat neulich ein Päckchen gefunden, eingewickelt in drei Lagen Gefrierbeutel. "Gulasch 2021" stand drauf. In seiner Handschrift. Er hat es angestarrt wie ein Archäologe, der gerade eine Mumie entdeckt hat. "Das war das gute Gulasch", sagte er. "Mit dem Fleisch vom Metzger." Es wanderte ungeöffnet in den Müll. Nach drei Jahren hilft auch Einfrieren nicht mehr.
Die Wissenschaft sagt, dass eingefrorene Lebensmittel theoretisch unbegrenzt haltbar sind. Praktisch... naja. Der Gefrierbrand, der Geschmacksverlust, die Konsistenz. Und ehrlich: Würdet ihr Gulasch von 2021 essen? Eben.
Wir haben auch schon Apps ausprobiert. "Too Good To Go" zum Beispiel. Da rettet man Lebensmittel von Restaurants und Bäckereien. Fühlt sich gut an. Rettet den Planeten und so. Einmal haben wir eine Tüte vom Bäcker geholt. Fünf Brötchen, drei Teilchen, ein halber Kuchen. Für zwei Personen. Wir haben drei Tage nur Backwaren gegessen. Am Ende haben wir auch davon was weggeworfen. Die Ironie.
Dann gibt es noch die Nachbarn. "Habt ihr Verwendung für Zucchini?", fragt Herr Schmidt von nebenan im Sommer alle drei Tage. Sein Garten explodiert. Wir nehmen die Zucchini. Aus Höflichkeit. Sie landen... ihr wisst schon wo.
Das klingt jetzt alles sehr negativ. Als wären wir völlige Versager in Sachen Haushaltsführung. Sind wir nicht. Nicht völlig jedenfalls. Es gibt auch Erfolge. Letzte Woche haben wir tatsächlich alle Bananen gegessen, bevor sie schwarz wurden. Okay, die letzten zwei waren schon sehr braun, aber Thomas hat Bananenbrot daraus gemacht. Mit Schokoladenstückchen. War der Hammer. Werden wir wieder machen. Wenn die Bananen wieder fast schwarz sind.
Das ist vielleicht die Lösung: Die Standards runterschrauben. Nicht perfekt haushalten wollen, sondern gut genug. Die Paprika ist verschimmelt? Passiert. Die Avocado hat den perfekten Moment verpasst? Macht nichts. Wir sind keine Foodblogger, die jeden Tag Instagram-würdige Mahlzeiten zaubern müssen. Wir sind zwei Menschen, die versuchen, halbwegs vernünftig zu leben.
Trotzdem tut es weh. Jedes Mal. Dieses weggeworfene Geld. Diese verschwendeten Ressourcen. Der ökologische Fußabdruck. Wusstet ihr, dass die Lebensmittelverschwendung global für etwa 8 Prozent der Treibhausgase verantwortlich ist? Wenn Lebensmittelverschwendung ein Land wäre, wäre es der drittgrößte Emittent nach China und den USA.
Thomas meint, wir sollten kleinere Kühlschränke haben. Wie früher. Da passte nicht so viel rein, also musste man öfter einkaufen und frischer essen. Aber kleinere Kühlschränke gibt es kaum noch zu kaufen. Die Amerikaner haben uns ihre XXL-Kultur gebracht, und wir haben sie dankbar angenommen. Mit allen Konsequenzen.
Gestern haben wir wieder eingekauft. Der Kühlschrank ist voll. Frisches Gemüse, gute Vorsätze, die üblichen Verdächtigen. In der Gemüseschublade liegt eine Packung Rucola. "Für Salat", habe ich zu Thomas gesagt. Er hat genickt. Wir beide wissen: In einer Woche werden wir eine braune Pampe aus der Packung ziehen und uns gegenseitig versichern, dass wir nächste Woche wirklich Salat machen.
Aber wisst ihr was? Heute Abend machen wir tatsächlich was aus dem Gemüse. Die Paprika sind frisch, die Tomaten perfekt, und wir haben Zeit. Kein Meeting, keine Verpflichtungen, nur wir und unsere Küche. Vielleicht wird es was. Vielleicht auch nicht. Aber wir versuchen es.
Das ist vielleicht alles, was man tun kann. Es versuchen. Wieder und wieder. Scheitern, wegwerfen, neu anfangen. Mit jedem Einkauf die Hoffnung, dass diese Woche die Woche wird, in der wir alles aufbrauchen. In der nichts verschimmelt. In der wir die Menschen sind, die wir beim Einkaufen zu sein glauben.
Unser Kühlschrank summt leise vor sich hin. Drin wartet das Gemüse auf sein Schicksal. Werden es leckere Gerichte? Oder Biomüll? Die Würfel sind noch nicht gefallen. Aber die Chancen stehen fifty-fifty. Wie immer.
Das ist unser Leben. Nicht perfekt, aber unseres. Mit all seinen verschimmelten Paprikas und guten Vorsätzen. Mit Gefrierfächern voller Geheimnisse und Gemüseschubladen voller Hoffnung.
Und manchmal, ganz manchmal, essen wir tatsächlich alles auf, bevor es schlecht wird. Das sind die kleinen Siege, die wir feiern. Mit einem Glas Wein und dem guten Gefühl, es einmal geschafft zu haben.
Bis zum nächsten Einkauf.