Wohnen & Alltagstipps

47 Paar Schuhe und ein Regal, das keiner benutzt

Winterberg 2025. 8. 13. 06:59

Gestern kam ich nach Hause und wäre fast gestolpert. Wieder mal. Über Tobias' Wanderschuhe, die er strategisch genau da platziert hatte, wo ich im Dunkeln lang muss. "Die standen nicht im Weg", behauptete er später. Klar, wenn man weiß, wo sie sind, kann man ja drumherum gehen.

Dabei haben wir ein Schuhregal. Ein richtig schönes sogar, Buche massiv, selbst zusammengebaut an einem Sonntagnachmittag vor drei Jahren. Ich weiß noch, wie stolz Tobias war, als er den letzten Dübel reingedreht hatte. "Das hält ewig", sagte er. Stimmt. Das Regal hält. Nur die Schuhe halten sich nicht dran.

Die Forschung zur Verhaltensänderung sagt übrigens, dass es etwa 66 Tage dauert, bis eine neue Gewohnheit etabliert ist. Das hat die Gesundheitspsychologin Phillippa Lally 2009 rausgefunden. 66 Tage! Bei uns hat's keine 66 Stunden gedauert, bis das erste Paar Schuhe neben statt im Regal gelandet ist. Ich glaube, es waren meine Stiefeletten. Die mit dem kaputten Reißverschluss, die ich immer noch nicht zum Schuster gebracht hab.

Neulich hab ich mal gezählt. Wir besitzen zusammen 38 Paar Schuhe. Zu zweit! Dabei tragen wir immer nur dieselben vier oder fünf Paare. Der Rest wartet auf seinen großen Auftritt. Tobias' Lackschuhe zum Beispiel, die er zur Hochzeit seines Bruders gekauft hat. Das war 2018. Seitdem stehen sie in der Originalverpackung im Regal. "Falls mal wieder eine Hochzeit ist", sagt er. Als ob Hochzeiten so überraschend kämen.

Die Schuhbranche macht übrigens einen Jahresumsatz von etwa 80 Milliarden Dollar weltweit. Ein durchschnittlicher Deutscher kauft 4,4 Paar Schuhe pro Jahr. Frauen etwas mehr, Männer etwas weniger, aber der Unterschied ist gar nicht so groß, wie man denkt. Das eigentliche Problem ist nicht das Kaufen – es ist das Wegwerfen. Oder besser: das Nicht-Wegwerfen.

Psychologen nennen das den "Endowment Effect" – sobald wir etwas besitzen, schätzen wir seinen Wert höher ein als vorher. Selbst wenn's nur alte Turnschuhe sind, die nach nassem Hund riechen. "Die kann man noch zum Renovieren anziehen", sagt Tobias dann. Wann haben wir das letzte Mal renoviert? 2019, als wir eingezogen sind.

Unser Flur ist eigentlich perfekt für ein Schuhregal. Drei Meter lang, einen Meter zwanzig breit. Da ist Platz. Theoretisch. Praktisch sieht es so aus: Links steht das Regal, davor liegen Schuhe. Rechts ist die Wand, davor liegen Schuhe. In der Mitte ist der Weg zur Tür, darauf liegen... genau.

Die Umweltpsychologie kennt das Phänomen der "Desire Paths" – Trampelpfade, die entstehen, weil Menschen den kürzesten Weg nehmen, nicht den geplanten. Bei uns im Flur gibt es auch so einen Desire Path: vom Eingang direkt ins Wohnzimmer, Schuhe fallen lassen wo man grad steht. Das Regal liegt nicht auf dieser Route. Das ist das Problem. Sagt Tobias. Ich sage, das Problem ist, dass wir zu faul sind, zwei Schritte extra zu machen.

In Japan gibt es übrigens das Konzept des "Genkan" – ein abgesenkter Eingangsbereich, wo man die Schuhe auszieht, bevor man den eigentlichen Wohnbereich betritt. Eine physische Barriere zwischen draußen und drinnen. Seit dem 14. Jahrhundert machen die das so. Funktioniert offenbar. Bei uns gibt's keine Absenkung, nur eine Fußmatte, die ständig verrutscht.

Meine Schwester hat neulich gemeint, wir bräuchten einfach ein System. Sie hat für alles ein System. Ihre Schuhe sind nach Farbe sortiert, von hell nach dunkel. Im Ernst. Ich hab sie gefragt, was sie macht, wenn sie ein Paar hat, das mehrfarbig ist. "Das kommt ans Ende", sagte sie. Als wäre das logisch.

Wir hatten auch mal ein System. Kurz. Es hieß: Sommerschuhe oben, Winterschuhe unten, Alltagsschuhe in der Mitte. Hat genau so lange funktioniert, bis der erste warme Tag im März kam und wir zu faul waren, die Sandalen von oben zu holen. Seitdem steht alles durcheinander. Meine Flip-Flops neben Tobias' Winterstiefeln. Seine Laufschuhe neben meinen Pumps. Anarchie in Schuhform.

Die Konsumforschung weiß übrigens, dass 80% aller Organisationssysteme scheitern. Nicht weil die Systeme schlecht sind, sondern weil sie zu kompliziert für den Alltag sind. Das hat Professor Russell Belk von der York University rausgefunden. Menschen wollen Einfachheit, besonders wenn sie müde von der Arbeit kommen. Schuhe nach Farbe sortieren ist nicht einfach. Schuhe fallen lassen schon.

Tobias hat mal vorgeschlagen, wir könnten die Schuhe einfach draußen lassen. Vor der Wohnungstür. "In Schweden machen das alle", sagte er. Hab ich gegoogelt. Stimmt tatsächlich, in Mehrfamilienhäusern stehen da oft Schuhregale im Treppenhaus. Aber wir wohnen in Deutschland. In Hamburg. Im dritten Stock. Ich seh schon die Gesichter unserer Nachbarn, wenn wir anfangen, den Hausflur zu möblieren.

Das Verrückte ist: Wenn wir bei anderen zu Besuch sind, räumen wir unsere Schuhe ordentlich weg. Immer. Stellen sie schön parallel nebeneinander, als wären wir die ordentlichsten Menschen der Welt. "Bei anderen strengen wir uns an", sagt Tobias. "Zu Hause können wir wir selbst sein." Wenn "wir selbst" bedeutet, dass wir zu faul sind, unsere Schuhe ins Regal zu stellen, dann ja.

Letzte Woche hatte ich eine Erleuchtung. Was, wenn das Problem gar nicht die Schuhe sind, sondern das Regal? Es ist zu hoch. Man muss sich bücken für die unteren Fächer, strecken für die oberen. Die mittleren sind okay, aber da ist nur Platz für vier Paar. Also landen die meisten Schuhe da, wo man sich nicht bücken muss: auf dem Boden.

Die Ergonomie-Forschung bestätigt das übrigens. Die "Power Zone" – der Bereich zwischen Hüfte und Schulter – ist der, wo Menschen am liebsten Dinge ablegen. Alles darüber oder darunter erfordert Extra-Aufwand. Und Extra-Aufwand vermeiden wir, wo es geht. Das ist keine Faulheit, das ist Evolution. Energiesparen war überlebenswichtig. Nur dass es heute ums Überleben im Flur geht.

Meine Mutter war neulich da und hat nichts gesagt. Gar nichts. Sie ist einfach über die Schuhe gestiegen, hat sich ihren Kaffee gemacht und sich hingesetzt. Aber dieser Blick. Ihr kennt das. Dieser Mutter-Blick, der sagt: "Ich hab dich nicht so erzogen, aber ich akzeptiere, dass du jetzt dein eigenes Leben lebst. Auch wenn es chaotisch ist."

Bei meinen Eltern hat jeder Schuh seinen festen Platz. Seit 40 Jahren. Dieselbe Ordnung. Papas Hausschuhe links, Mamas rechts, der Rest im Schrank. Ein Schrank! Mit Türen! Die man zumachen kann! Revolutionary.

Wir haben auch mal über einen Schuhschrank nachgedacht. Mit Spiegel vorne dran, sehr schick. Dann haben wir uns vorgestellt, wie das ablaufen würde. Heimkommen, Tür aufmachen, Schuhe ausziehen, Schranktür aufmachen, Schuhe reinstellen, Schranktür zumachen. Fünf Schritte statt einem. "Das machen wir genau einmal", sagte Tobias. Er hatte recht.

Die Verhaltensökonomie nennt das "Friction" – Reibung. Je mehr Schritte zwischen uns und dem Ziel liegen, desto unwahrscheinlicher, dass wir es erreichen. Darum funktionieren auch diese ganzen Fitness-Apps nicht, wo man erstmal fünf Menüs durchklicken muss, um sein Training zu loggen. Zu viel Friction. Genau wie Schranktüren.

Manchmal denke ich, unser Schuhchaos ist eine Metapher für unser Leben. Wir wissen, was richtig wäre. Wir haben die Mittel dazu. Aber zwischen Wissen und Tun liegt dieser riesige Berg namens Alltag. Und der Alltag gewinnt meistens.

Letzte Woche hab ich einen Artikel gelesen über "Habit Stacking" – neue Gewohnheiten an alte koppeln. Zum Beispiel: Immer wenn ich meinen Schlüssel aufhänge, stelle ich auch die Schuhe weg. Klingt logisch. Hab ich Tobias erzählt. "Und was, wenn ich meinen Schlüssel nicht aufhänge?", fragte er. Guter Punkt. Der liegt nämlich auch meistens irgendwo rum.

Die Wahrheit ist: Wir sind Chaos-Menschen. Nicht in allem, aber in vielem. Tobias kann stundenlang seine Spotify-Playlisten sortieren, aber seine Schuhe? Anarchie. Ich organisiere meine Arbeitsprojekte in farbcodierten Ordnern, aber meine Stiefel? Kreuz und quer.

Die Persönlichkeitspsychologie würde sagen, wir sind "selektiv ordentlich". Wir investieren unsere Organisationsenergie da, wo es uns wichtig ist. Schuhe im Flur? Offenbar nicht so wichtig. Jedenfalls nicht wichtig genug.

Neulich waren wir bei Freunden, die gerade eingezogen sind. Alles neu, alles durchdacht. Sie haben so ein Sitzbänkchen mit Stauraum drunter. "Life-changing", sagten sie. Man setzt sich hin, zieht die Schuhe aus, klappt die Bank hoch, Schuhe rein, fertig. Genial.

Zwei Monate später waren wir wieder da. Rate mal, wo die Schuhe standen? Richtig. Vor der Bank. Die jetzt als Ablage für Taschen diente. "Das mit dem Hochklappen ist irgendwie...", sagte unsere Freundin. "Zu umständlich", beendete ihr Mann den Satz. Wir haben alle gelacht. Willkommen im Club.

Es gibt übrigens Kulturen, in denen Schuhe im Haus undenkbar sind. In der Türkei zum Beispiel. Oder in Korea. Da ist das keine Frage der Organisation, sondern der Höflichkeit. Der Respekt vor dem Wohnraum. Bei uns ist es eher: Respekt? Vor wem? Vor dem Laminat?

Ich hab mal versucht, das durchzusetzen. Keine Schuhe im Haus, gar keine. Hat zwei Tage gedauert, dann stand ich selbst mit Schuhen in der Küche. "Ich wollte nur schnell...", fing ich an. Tobias hat nur gegrinst. "Nur schnell ist der Anfang vom Ende", sagte er. Weise Worte von einem Mann, dessen Wanderschuhe seit drei Wochen "nur schnell" im Flur stehen.

Die Wissenschaft sagt übrigens, dass Paare, die ähnliche Ordnungsvorstellungen haben, glücklicher sind. Aber was, wenn beide unordentlich sind? Sind wir dann doppelt glücklich oder doppelt chaotisch? Wahrscheinlich beides.

Manchmal, wenn ich nachts aufstehe und im Dunkeln durch den Flur tappe, denke ich: Ein aufgeräumter Flur wäre schon nice. Keine Stolperfallen, keine blauen Zehen. Dann denke ich an all die Energie, die das kosten würde. Jeden Tag. Mehrmals. Und bleibe lieber im Bett.

Tobias sagt, in zehn Jahren lachen wir drüber. Über die Zeit, als wir zu chaotisch für unser eigenes Schuhregal waren. Vielleicht werden wir dann ordentlicher sein. Oder wir haben aufgegeben und die Schuhe übernehmen die Wohnung. Fifty-fifty würde ich sagen.

Gestern kam ein Paket. Tobias hatte was bestellt. "Schuhorganizer" stand drauf. Ich hab ihn angeguckt. Er hat gegrinst. "Für den Kleiderschrank", sagte er. "Für meine Sneaker-Sammlung." Seine drei Paar Sneaker. Die er jetzt im Schlafzimmer organisiert, während im Flur weiter Anarchie herrscht.

Das ist unser Leben. Wir kaufen Organizer für Schuhe, die wir nicht tragen, während die Schuhe, die wir täglich brauchen, auf dem Boden rumliegen. Macht das Sinn? Nein. Machen wir's trotzdem? Absolut.

Die Positive Psychologie sagt übrigens, dass es wichtig ist, sich selbst zu akzeptieren. Mit allen Macken. Wir sind halt Menschen, die ihre Schuhe nicht wegräumen. Na und? Dafür kochen wir zusammen, lachen viel und können stundenlang über Nichtigkeiten diskutieren. Wie über Schuhregale.

Heute Morgen bin ich aufgestanden und – Wunder! – das Schuhregal war aufgeräumt. Alle Schuhe an ihrem Platz. Ich hab Tobias gefragt, was los ist. "Ich konnte nicht schlafen", sagte er. "Da dachte ich..." Er zuckte mit den Schultern.

Ich war gerührt. Wirklich. Für etwa drei Sekunden. Dann hab ich meine Turnschuhe angezogen und bin zum Sport. Als ich zurückkam, lagen sie wieder vor dem Regal. Die Turnschuhe. Weil ich's eilig hatte. Weil ich duschen wollte. Weil... keine Ahnung.

Tobias hat nichts gesagt. Er hat nur gelächelt und seine eigenen Schuhe daneben gestellt. "Damit deine nicht so allein sind", sagte er.

Das ist Liebe. Oder Resignation. Wahrscheinlich beides.

Wie heißt es so schön? Der Weg zur Hölle ist gepflastert mit guten Vorsätzen. Bei uns ist er gepflastert mit Schuhen. Aber hey, wenigstens ist es unser Weg. Chaotisch, unperfekt, aber unserer.