Wohnen & Alltagstipps

Wenn der Winter uns zusammenrücken lässt

Winterberg 2025. 9. 7. 09:40

Letzten Oktober saß ich mit Markus auf der Couch. Draußen nieselte es, dieser fiese Herbstregen, der einem klarmacht: Der Sommer ist endgültig vorbei. Wir starrten beide auf unsere Handys. Er scrollte durch irgendwelche Nachrichten, ich durch Instagram. Zusammen, aber jeder für sich.

"Wollen wir was spielen?", fragte ich plötzlich.

Markus schaute mich an, als hätte ich vorgeschlagen, nackt durch den Garten zu tanzen. "Spielen? Wie... Brettspiele?"

Die Idee kam aus dem Nichts. Oder vielleicht auch nicht. Die dänischen Forscher haben einen Begriff dafür: "Hygge" – diese gemütliche Atmosphäre, die entsteht, wenn man es sich drinnen schön macht, während draußen das Wetter tobt. Meik Wiking vom Happiness Research Institute in Kopenhagen hat festgestellt, dass die Dänen nicht trotz, sondern wegen ihrer langen, dunklen Winter zu den glücklichsten Menschen gehören. Sie haben gelernt, die Dunkelheit zu umarmen.

Wir kramten im Chaos-Schrank. Ganz unten, unter Zeitschriften und diesem Föhn, den Markus seit 2019 reparieren will, lagen sie: Monopoly (definitiv unvollständig), Scrabble (Kaffeefleck inklusive), Trivial Pursuit von 1995. Die Schachteln rochen nach Keller und vergessenen Sonntagen.

"Wann haben wir das letzte Mal gespielt?", fragte Markus.

Ich musste überlegen. War es wirklich vor Corona? Diese seltsame Zeitrechnung, die wir alle haben. Vor Corona. Nach Corona. Als wäre es eine Zeitenwende gewesen. War es ja auch, irgendwie.

Die Spielforschung – ja, die gibt's wirklich – zeigt übrigens, dass Brettspiele während der Pandemie ein riesiges Revival erlebt haben. Der Absatz stieg 2020 um 21%, hat die Entertainment Retailers Association festgestellt. Menschen suchten nach analoger Verbindung in digitalen Zeiten. Nach etwas Echtem, Greifbarem.

Wir entschieden uns für Trivial Pursuit. Die Fragen waren herrlich veraltet. "Wer ist der amtierende Bundeskanzler?" – "Helmut Kohl", stand auf der Karte. Wir lachten, bis uns die Bäuche wehtaten. Es war wie eine Zeitreise. 1995. Da war ich noch in der Ausbildung, Markus studierte noch. Wir kannten uns nicht mal.

Nach einer halben Stunde änderten wir die Regeln. Wer die Antwort für 1995 weiß, bekommt den Punkt. Das wurde richtig schwer. Versucht mal, euch zu erinnern, welcher Film 1995 den Oscar gewonnen hat. Forrest Gump? Nein, das war 1994. Braveheart! Markus wusste es. "Ich hab ein Gedächtnis wie ein Elefant", prahlte er. Bis zur Frage nach dem Formel-1-Weltmeister. "Schumacher!", rief er siegessicher. Es war tatsächlich Schumacher. Sein erster Titel. Manchmal hat man einfach Glück.

Die Neurowissenschaft weiß heute, dass Spielen unser Gehirn jung hält. Stuart Brown vom National Institute for Play – auch das gibt's – hat nachgewiesen, dass spielende Erwachsene kreativer, flexibler und resilienter sind. Das Gehirn bildet neue Synapsen, alte Muster werden aufgebrochen. Bei uns wurden vor allem alte Erinnerungen aufgebrochen.

"Weißt du noch, 1995?", fragte ich. "Da hatte ich diese furchtbare Dauerwelle."

"Und ich den Schnurrbart", erinnerte sich Markus. "Dachte, ich seh aus wie Tom Selleck."

"Eher wie ein Pornodarsteller aus den Achtzigern."

"Hey!"

Wir redeten und spielten bis drei Uhr morgens. Am nächsten Tag waren wir beide gerädert. Markus schickte mir mittags eine WhatsApp: "Bin tot. Deine Schuld." Aber abends fragte er: "Nochmal?"

So fing es an. Unser Spieleabend-Revival. Die Anthropologin Helen Fisher von der Rutgers University hat übrigens erforscht, warum Paare, die zusammen spielen, glücklicher sind. Es geht um "positive Erregung" – arousal nennt sie es. Nicht sexuell, sondern diese Aufregung, die entsteht, wenn man gemeinsam etwas erlebt. Das Gehirn kann nicht unterscheiden, ob die Erregung vom Partner oder vom Spiel kommt. Es verknüpft beides. Man verliebt sich quasi neu, über Monopoly.

Bei uns war's eher Krieg als Liebe, als wir Monopoly spielten. Markus kauft immer die Bahnhöfe. Alle vier. "Das ist Strategie", behauptet er. Welche Strategie? Die Miete ist lächerlich. Aber er besteht darauf. Ich kaufe die teuren Straßen. Schlossallee, Parkstraße. "Prestige-Objekte", nennt Markus sie abfällig. Bis er drauf landet und 2000 Euro Miete zahlen muss.

Die Verhaltensökonomie kennt das Phänomen: "Loss Aversion" – Verlustaversion. Menschen hassen es, zu verlieren, mehr als sie es lieben, zu gewinnen. Daniel Kahneman hat dafür den Nobelpreis bekommen. Bei Markus kann ich das live beobachten. Wenn er verliert, wird er zum Kind. Schmollt. Behauptet, ich hätte geschummelt. Was stimmt, aber das ist nicht der Punkt.

Wir haben mittlerweile feste Regeln. Keine Handys am Tisch – das war am schwersten für mich, ich bin süchtig nach diesem Ding. Der Verlierer räumt auf – deswegen verliere ich jetzt öfter absichtlich. Keine Regeldiskussionen nach Mitternacht – die werden philosophisch und enden nie gut.

Letzte Woche spielten wir Stadt-Land-Fluss. Mit selbst erfundenen Kategorien: "Ausreden für Zuspätkommen", "Dinge, die Mama sagen würde", "Sachen, die man bereut". Bei Letzterer schrieb Markus: "Den Schnurrbart von 1995." Ich schrieb: "Die Dauerwelle." Wir mussten so lachen.

Der Psychologe Mihaly Csikszentmihalyi – versuch das mal bei Scrabble zu legen – hat das Konzept des "Flow" geprägt. Dieser Zustand völliger Vertiefung, wo Zeit keine Rolle spielt. Beim Spielen erreichen wir das regelmäßig. Plötzlich ist es zwei Uhr morgens und wir haben vergessen zu essen.

Neulich waren unsere Freunde Sandra und Klaus da. Wir spielten Tabu. Sandra musste "Prokrastination" erklären. "Das, was Klaus mit allem macht!", rief sie. Klaus war beleidigt. Für etwa dreißig Sekunden. Dann musste er "Kontrollfreak" erklären und sagte: "Sandra beim Autofahren." Die Rache war süß.

Die Spieltheorie – nicht nur Mathematik, sondern auch Psychologie – zeigt, dass kooperative Spiele Beziehungen stärken, während kompetitive sie belasten können. Wir spielen trotzdem nur kompetitiv. Aber mit einer Regel: Nach dem Spiel wird nicht mehr darüber geredet. Was am Spieltisch passiert, bleibt am Spieltisch. Wie in Vegas, nur mit weniger Geld.

Die Nachbarskinder haben uns "Exploding Kittens" beigebracht. Was für ein Name! Aber genial. Die achtjährige Emma schlägt uns regelmäßig in allem. "Ihr denkt zu viel", sagt sie. "Einfach spielen!" Die Weisheit der Kinder. Shunryu Suzuki nennt es "Anfängergeist" – Shoshin im Zen. Alles mit frischen Augen sehen. Emma hat das perfektioniert.

Markus schummelt übrigens. Ständig. Er denkt, ich merke es nicht. Beim Kartenmischen zieht er gute Karten nach oben. Bei Monopoly "vergisst" er, Miete zu zahlen. Bei Scrabble erfindet er Wörter. "Quorx" ist kein Wort, Markus! "Im Klingonischen schon", behauptet er. Ich lass ihn. Die Beziehungsforscherin Esther Perel sagt: Kleine Geheimnisse halten eine Beziehung lebendig. Wenn sein Geheimnis ist, dass er bei Mensch-ärgere-dich-nicht betrügt, kann ich damit leben.

Die Evolutionsbiologie erklärt übrigens, warum wir so gerne spielen. Spielen ist Üben für's echte Leben. Tiere spielen, um Jagd und Kampf zu trainieren. Menschen spielen, um soziale Situationen zu üben. Monopoly lehrt Kapitalismus, Schach strategisches Denken, Poker Bluffen. Bei uns lehrt es hauptsächlich Geduld. Mit dem Partner, der eine Stunde für seinen Zug braucht.

"Du denkst zu viel", sage ich dann.

"Ich plane", sagt Markus.

"Du zögerst."

"Strategie!"

Am Ende würfelt er einfach irgendwas. So viel zur Strategie.

Die dunkle Jahreszeit hat übrigens messbare Effekte auf unser Sozialverhalten. Die Seasonal Affective Disorder (SAD) kennen viele, aber es gibt auch positive Aspekte. Forscher der University of Copenhagen fanden heraus, dass Menschen in dunklen Monaten mehr "Bonding-Verhalten" zeigen. Wir rücken buchstäblich näher zusammen. Die Spieleabende sind unser Bonding-Ritual.

Letzten Samstag spielten wir Risiko. Das dauert ewig. Wir starteten um acht, um drei gaben wir auf. Ich hatte Asien, Markus Afrika. Um Europa wurde gekämpft wie im echten Leben. Irgendwann waren wir so müde, dass wir die Augenzahlen nicht mehr lesen konnten. "Ist das eine Vier oder eine Eins?" – "Das ist eine Sechs." – "Ach so."

Markus schlief über dem Spielbrett ein. Mit Würfeln in der Hand. Ich machte ein Foto. Das zeige ich bei seinem 50. Geburtstag.

Die Verhaltensforschung zeigt: Gemeinsame Rituale sind der Kitt von Beziehungen. John Gottman vom Gottman Institute – der kann mit 90% Genauigkeit vorhersagen, ob Paare zusammenbleiben – sagt: Es sind nicht die großen Gesten, sondern die kleinen wiederkehrenden Momente. Unser Moment ist Mittwochabend, 20 Uhr, Küchentisch, Spieleschachtel.

Manchmal denke ich an früher. Vor den Spieleabenden. Wir saßen nebeneinander, jeder in seinem Handy. "Parallel Play" nennen das die Psychologen – nebeneinander spielen wie Kleinkinder, aber nicht miteinander. Jetzt spielen wir miteinander. Streiten über Regeln. Lachen über alte Witze. Erzählen Geschichten, die mit "Weißt du noch?" anfangen.

Die Kognitionsforschung weiß: Beim Spielen werden beide Gehirnhälften aktiviert. Logik und Kreativität, Strategie und Intuition. Es ist wie Gehirnjogging, nur lustiger. Und mit Alkohol. Wir trinken immer Wein dazu. Einen. Na gut, zwei. Manchmal drei. Das verbessert das Spiel nicht, aber die Stimmung.

Gestern kaufte ich neue Spiele. Vom Flohmarkt natürlich, wir sind doch nicht reich. Cluedo ohne Bleirohr-Karte (egal, wir erfinden was), Backgammon (Markus behauptet, er kann es – wir werden sehen), ein 1000-Teile-Puzzle (ist das ein Spiel? Egal).

"Wir werden alt", sagte Markus, als er die Ausbeute sah.

"Wir werden gemütlich", korrigierte ich.

"Ist das nicht dasselbe?"

Vielleicht. Aber wenn alt werden bedeutet, Samstagabends mit dem Menschen, den man liebt, um Monopoly-Geld zu streiten, statt in irgendeiner Bar zu versacken – dann werde ich gerne alt.

Die Glücksforschung sagt: Zufriedenheit kommt nicht von außergewöhnlichen Ereignissen, sondern von der Summe kleiner positiver Momente. "Hedonic Adaptation" verhindert, dass große Ereignisse uns dauerhaft glücklich machen – wir gewöhnen uns an alles. Aber kleine, wiederkehrende Freuden? Die bleiben.

Unsere kleine Freude ist der Moment, wenn Markus die Spieleschachtel auf den Tisch stellt. Das Geräusch der Würfel. Sein Gesicht, wenn er verliert. Mein Triumphgeschrei, wenn ich gewinne. Die Diskussionen über Regeln, die es nicht gibt. Die erfundenen Wörter bei Scrabble. Die Drohung mit Scheidung, wenn einer alle Hotels kauft.

Heute Abend spielen wir wieder. Draußen ist es kalt und dunkel. Perfektes Spielewetter. Markus weiß noch nicht, dass ich Twister gekauft habe. Wir sind beide über vierzig und ungefähr so gelenkig wie Besenstiele. Das wird ein Disaster. Ein wunderbares Disaster.

Die Kälte draußen macht das Warme drinnen kostbarer. Dieses kleine Licht-Insel-Gefühl, während drumherum die Welt in Winterschlaf fällt. Wir spielen uns durch die Dunkelheit. Brett für Brett, Karte für Karte, Würfel für Würfel.

Manchmal braucht es nicht viel. Nur einen Tisch, alte Spiele und jemanden, der bereit ist, bis drei Uhr morgens über Monopoly-Regeln zu diskutieren. Der nicht (lange) sauer ist, wenn man schummelt. Der einen auch mal gewinnen lässt.

Das ist unser Winter. Unsere Hygge. Unsere Art, die Kälte in Wärme zu verwandeln.

Und wisst ihr was? Es funktioniert.