Wohnen & Alltagstipps

Ein leises Klicken, dann Licht

Winterberg 2025. 8. 12. 12:26

Gestern saß ich wieder mal auf unserem durchgesessenen Sofa – ihr kennt das bestimmt, dieses eine Möbelstück, bei dem die Federn schon aufgegeben haben – und starrte nach oben. An die Decke. An diese Lampe, die da hängt wie... wie soll ich das beschreiben? Wie ein Relikt aus einer anderen Zeit.

Es ist eine von diesen Deckenleuchten mit Stoffschirm und – haltet euch fest – goldenen Fransen. Ja, richtig gelesen. Goldene Fransen. Als hätte jemand einen Lampenschirm mit einem Vorhang aus den Siebzigern gekreuzt und das Ergebnis bei uns an die Decke gehängt. Was im Grunde auch stimmt, denn das Ding stammt von Marks Tante Gertrud. Gott hab sie selig.

Mark nennt die Lampe liebevoll "Gertruds Rache". Warum Rache? Weil sie uns das Teil zur Hochzeit geschenkt hat, zusammen mit der Bemerkung: "Die bringt Licht in euer Leben!" Damals haben wir höflich gelächelt und uns insgeheim gefragt, wo zur Hölle wir dieses... Kunstwerk hinhängen sollen. In den Keller? Den hatten wir damals noch gar nicht.

Die Psychologie kennt ja dieses Phänomen des "Endowment-Effekts" – sobald wir etwas besitzen, schreiben wir ihm automatisch mehr Wert zu, als es objektiv hat. Der Verhaltensökonom Richard Thaler hat dafür 2017 sogar den Nobelpreis bekommen. Vereinfacht gesagt: Wir hängen an unserem Kram, selbst wenn er hässlich ist. Besonders wenn er hässlich ist und eine Geschichte hat.

Bei unserer Lampe kam noch was dazu: Tante Gertrud war die einzige aus Marks Familie, die bei unserer Hochzeit dabei war. Seine Eltern waren dagegen – zu jung, zu überstürzt, das Übliche halt. Aber Gertrud, die stand da in ihrem lila Kostüm und hat Sekt getrunken, als gäbe es kein Morgen. "Macht euer Ding", hat sie gesagt und uns diese Lampe in die Hand gedrückt.

Drei Monate später war sie tot. Herzinfarkt beim Rosenbeete gießen.

Seitdem hängt die Lampe bei uns. Erst in der winzigen Einzimmerwohnung über dem Bett – stellt euch das mal vor, jeden Morgen als Erstes goldene Fransen sehen. Dann in der Zweizimmerwohnung im Flur, weil Mark meinte, da sieht sie keiner. Stimmt nicht. Jeder, der reinkam, hat gefragt: "Was ist das denn?"

Mittlerweile hängt sie im Wohnzimmer. Zentral. Unübersehbar. Mit einem Riss im Schirm, der aussieht wie ein Blitz. Den hat sie seit dem großen Umzug vor drei Jahren, als mir die Umzugskiste aus der Hand gerutscht ist und genau auf die Lampe gekracht ist. "Jetzt können wir sie wegschmeißen", hab ich gehofft. Ich meine, gesagt. Mark hat nur den Kopf geschüttelt: "Der Riss gibt ihr Charakter."

Charakterrisse. Ist das nicht ein schönes Wort?

In Japan gibt es diese Kunst des Kintsugi – zerbrochene Keramik wird mit Gold repariert, weil die Reparatur Teil der Geschichte des Objekts wird. Die Macke wird nicht versteckt, sondern betont. Die Japaner glauben, dass etwas schöner werden kann, nachdem es zerbrochen war. Verrückt? Vielleicht. Aber irgendwie auch tröstlich.

Neulich kam meine Schwester vorbei. Die mit dem perfekten Haus, wo alles zusammenpasst wie in diesen Wohnmagazinen. Sie stand im Türrahmen, hat die Lampe angestarrt und nur gesagt: "Immernoch?" Ja, immernoch. Nach sieben Jahren immernoch.

"Ihr könntet doch was Modernes...", fing sie an. Klar könnten wir. Bei IKEA gibt's schicke LED-Panels für 39,99. Oder diese Industrial-Style-Lampen, die aussehen wie aus einer hippen Bar. Die hat meine Schwester. Kostete 400 Euro und sieht aus wie eine nackte Glühbirne an einem Draht. "Minimalistisch", nennt sie das.

Aber wisst ihr was? Unter ihrer Designer-Glühbirne haben wir letztes Weihnachten gesessen und uns gelangweilt. Alles war perfekt – das Essen, die Deko, die Beleuchtung. Zu perfekt. Als würde man in einem Katalog leben.

Bei uns ist nichts perfekt. Der Teppich hat Flecken vom verschütteten Rotwein (Silvester 2019, wilde Nacht), die Couch quietscht, wenn man sich bewegt, und die Lampe... nun ja. Aber als wir letzten Samstag Spieleabend hatten und alle unter Gertruds Fransenmonster saßen, wurde gelacht, bis die Nachbarn geklopft haben.

Die Umweltpsychologie beschäftigt sich übrigens viel mit der Wirkung von Räumen auf unser Wohlbefinden. Es gibt Studien, die zeigen, dass zu perfekte Umgebungen Stress auslösen können. Weil wir ständig Angst haben, was kaputtzumachen. In einem Raum mit sichtbaren Gebrauchsspuren entspannen wir uns eher. Da darf gelebt werden.

Mark hat mal versucht, den Riss zu kleben. Mit Sekundenkleber. Ihr könnt euch vorstellen, wie das ausgegangen ist. Der Stoff wurde hart und steif, der Riss ist trotzdem noch da, und jetzt haben wir zusätzlich eine verklebte Stelle, die im Licht glänzt wie... wie getrockneter Sekundenkleber halt.

"Macht's schlimmer", hab ich gesagt. "Macht's einzigartig", hat er geantwortet.

So ist er. Findet für alles eine positive Deutung. Selbst für Tante Gertruds Geschmack.

Die Kinder – wir haben zwei, Tim ist acht, Lena sechs – die lieben die Lampe. Für sie ist es "die Goldlampe". Tim hat neulich ein Bild von unserem Wohnzimmer gemalt, für die Schule. Die Lampe nimmt die halbe Zeichnung ein, überdimensional groß, mit Strahlen, die in alle Richtungen gehen. "Die ist das Wichtigste", hat er seiner Lehrerin erklärt. Die hat uns beim Elternsprechtag darauf angesprochen. "Haben Sie eine besondere Lampe?" Besonders. Ja, das kann man so sagen.

Lena benutzt die Fransen als Wetterbericht. Wenn sie sich bewegen, zieht's. "Papa, mach das Fenster zu, die Lampe tanzt!" Stimmt tatsächlich. Die Fransen sind wie ein analoger Windmesser. Wer braucht schon Smart-Home, wenn man Tante Gertrud hat?

Es gibt diese Theorie in der Verhaltensökonomie – "Sunk Cost Fallacy" heißt sie. Menschen halten an schlechten Entscheidungen fest, nur weil sie schon viel investiert haben. Zeit, Geld, Emotionen. Rational wäre es, die Verluste zu akzeptieren und neu anzufangen. Aber wer ist schon rational?

Andererseits: Ist es wirklich eine schlechte Entscheidung, die Lampe zu behalten? Klar, sie ist hässlich. Objektiv betrachtet. Aber sie erzählt unsere Geschichte. Den nervösen Anfang, als wir nicht wussten, wo wir sie hinhängen sollen. Die Trauer, als Gertrud starb und die Lampe plötzlich mehr wurde als nur ein Hochzeitsgeschenk. Die Panik beim Umzug, als sie fast kaputtgegangen wäre. Die missglückten Reparaturversuche.

Manchmal denke ich an den französischen Philosophen Gaston Bachelard, der über die "Poetik des Raumes" geschrieben hat. Für ihn sind Häuser nicht nur Gebäude, sondern Seelenräume. Jeder Gegenstand trägt Erinnerungen, jede Ecke erzählt Geschichten. Die Lampe ist Teil unserer Seelenlandschaft geworden.

Letzte Woche hatte Mark Geburtstag. Rate mal, was seine Kollegen ihm geschenkt haben? Eine neue Lampe. Eine moderne, schlichte, schwarze. "Wir dachten, es wird Zeit für ein Update", haben sie gesagt. Sie kannten die Geschichte nicht. Wie auch?

Die neue Lampe steht jetzt im Keller. In der Originalverpackung. "Für später", sagt Mark. Wir wissen beide, dass es kein später geben wird. Aber es wäre unhöflich gewesen, das Geschenk zurückzugeben.

Neulich hab ich im Internet nach unserer Lampe gesucht. Nur aus Neugier. "Vintage Deckenleuchte 70er Jahre Fransen" hab ich eingegeben. Und tatsächlich: Bei eBay wird so ein Ding für 350 Euro angeboten. Dreihundertfünfzig! Als "Design-Klassiker der Postmoderne". Ich hab Mark den Link geschickt. Er hat nur zurückgeschrieben: "Siehst du, Gertrud wusste, was sie tut."

Die Wissenschaft unterscheidet übrigens zwischen funktionalem und emotionalem Wert von Objekten. Ein Stuhl hat funktionalen Wert – man kann drauf sitzen. Aber der Stuhl von Opa, auf dem er immer seine Zeitung gelesen hat? Der hat emotionalen Wert. Oft übersteigt der emotionale den funktionalen Wert um ein Vielfaches.

Bei unserer Lampe ist es komplizierter. Funktional ist sie... na ja. Sie leuchtet. Meistens. Manchmal flackert sie, dann muss Mark auf die Leiter und an der Fassung wackeln. "Wackelkontakt", diagnostiziert er jedes Mal, als wäre es eine neue Entdeckung. Emotional aber? Unbezahlbar.

Meine Mutter versteht das. Sie hat noch die Küchenmaschine ihrer Mutter. Orange. Aus den Sechzigern. Klingt wie ein Presslufthammer, aber sie benutzt sie trotzdem. "Die hat schon Kuchen für deine Taufe gerührt", sagt sie. Als wäre das ein Qualitätsmerkmal.

Vielleicht ist es das ja. Kontinuität. In einer Welt, wo alles ständig neu und besser sein muss, ist es beruhigend, wenn manche Dinge bleiben. Selbst wenn sie hässlich sind. Gerade wenn sie hässlich sind.

Die Soziologen sprechen von "Biografischen Objekten" – Gegenstände, die Teil unserer Lebensgeschichte werden. Sie sind wie materielle Tagebücher. Man sieht sie an und erinnert sich. An Menschen, Momente, Gefühle.

Gestern Abend saßen Mark und ich wieder unter der Lampe. Die Kinder waren im Bett, wir hatten Wein aufgemacht – den guten, den wir geschenkt bekommen haben. "Weißt du noch", sagte Mark plötzlich, "wie Gertrud bei der Hochzeit getanzt hat?"

Klar wusste ich das noch. Gertrud in ihrem lila Kostüm, die Arme in der Luft, völlig egal, was die anderen denken. Sie war damals schon über siebzig, aber sie hat getanzt, als wäre sie siebzehn. Unter der Discokugel im Gemeindesaal, die auch nicht viel schicker war als unsere Lampe heute.

"Sie hätte sich gefreut, dass wir sie noch haben", sagte Mark. "Die Lampe?" "Ja. Und die Erinnerung."

In der Neuropsychologie weiß man, dass Erinnerungen nicht wie Videos gespeichert werden. Sie werden jedes Mal neu konstruiert, wenn wir sie abrufen. Dabei verändern sie sich minimal. Details werden hinzugefügt oder weggelassen. Die Lampe ist wie ein Anker für unsere Erinnerungen. Sie hält sie fest, verhindert, dass sie wegdriften.

Tim hat neulich gefragt, ob die Lampe mal ihm gehören wird. "Wenn ihr tot seid", hat er präzisiert, mit der Direktheit von Achtjährigen. Mark und ich haben uns angeschaut. Tot. Irgendwann, ja. Und dann?

"Willst du sie denn haben?", hab ich gefragt. "Klar", sagte Tim. "Die ist doch von uns."

Von uns. Nicht unsere. Von uns. Als wäre die Lampe ein Familienmitglied.

Lena hat sich eingemischt: "Ich will sie auch!" "Wir teilen", hat Tim großzügig angeboten. "Du kriegst die Fransen, ich den Rest."

Typisch Geschwister. Selbst bei einer hässlichen Lampe finden sie einen Grund zum Streiten.

Es gibt dieses Konzept in der Familientherapie – "Übergangsobjekte". Meist sind das Kuscheltiere oder Schmusedecken, die Kindern Sicherheit geben. Aber es können auch Familienobjekte sein, die über Generationen weitergegeben werden und Kontinuität schaffen.

Unsere Lampe als Übergangsobjekt. Gertrud hätte das gefallen.

Vor ein paar Wochen waren wir bei Freunden eingeladen. Neues Haus, alles vom Innenarchitekten gestaltet. Indirekte Beleuchtung, Spots, LED-Leisten. Sehr beeindruckend. Sehr teuer. Sehr... kalt.

"Wie viel hat das gekostet?", fragte Mark auf dem Heimweg. "Die Beleuchtung? Bestimmt fünftausend Euro." "Und trotzdem nicht so viel Persönlichkeit wie Gertruds Lampe."

Er hatte recht. In dem perfekt ausgeleuchteten Designerhaus fehlte etwas. Seele vielleicht. Geschichte auf jeden Fall. Alles war neu, makellos, austauschbar. Wie in einem Hotel. Einem sehr schicken Hotel, aber trotzdem.

Bei uns ist es anders. Chaotischer, ja. Aber echter. Wenn Freunde zum ersten Mal kommen, starren sie immer auf die Lampe. "Die ist ja... speziell", sagen sie dann höflich. "Die ist von Tante Gertrud", erklären wir. Als würde das alles erklären. Tut es ja auch irgendwie.

Manchmal stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn die Lampe morgen kaputtginge. Richtig kaputt, nicht reparierbar. Würden wir sie ersetzen? Durch was? Eine moderne LED-Leuchte mit App-Steuerung? Eine Retro-Lampe, die nur so tut, als wäre sie alt? Oder würden wir versuchen, eine genau gleiche zu finden?

Ich glaube, wir würden erstmal gar nichts machen. Die Kabel würden aus der Decke hängen, wochenlang. Wir würden drumherum reden, andere Lampen anschauen, aber keine kaufen. Weil keine Gertruds Lampe wäre.

Die Konsumforschung kennt das Phänomen der "Produkttreue". Meist bezieht es sich auf Marken – Menschen kaufen immer wieder dasselbe Waschmittel, aus Gewohnheit oder Überzeugung. Bei uns ist es extremer. Wir sind nicht einer Marke treu, sondern einem einzigen, unersetzlichen Objekt.

Mark hat neulich einen Elektriker kommen lassen. Der Wackelkontakt wurde schlimmer. Der Elektriker – jung, Anfang zwanzig – hat die Lampe angeschaut und gesagt: "Die sollten Sie austauschen. Die Verkabelung ist nicht mehr zeitgemäß."

Nicht mehr zeitgemäß. Als wäre das ein Argument.

"Können Sie sie reparieren?", hat Mark gefragt. "Schon, aber..." "Dann machen Sie das bitte."

Der Elektriker hat den Kopf geschüttelt, aber gemacht, was Mark wollte. Neue Kabel, neue Fassung, alles nach Vorschrift. 120 Euro hat das gekostet. Für das Geld hätten wir drei neue Lampen bei IKEA bekommen.

"War's das wert?", hab ich Mark gefragt. "Jeder Cent", hat er gesagt.

Seitdem flackert sie nicht mehr. Die Lampe hängt da, solide und hässlich wie eh und je. Der Riss ist noch da, die verklebte Stelle auch, eine Franse fehlt (die hat Tim mal abgerissen, als er versucht hat, seinen Drachen da durchzufliegen).

Gestern hab ich was Interessantes gelesen. In der Architekturtheorie gibt es den Begriff "Patina" – die Spuren, die Zeit und Gebrauch hinterlassen. Früher hat man versucht, Patina zu entfernen, alles sollte neu aussehen. Heute zahlen Menschen extra für "Used Look" und "Vintage Charme". Die Industrie produziert künstliche Patina – vorgewaschene Jeans, künstlich gealterte Möbel.

Unsere Lampe hat echte Patina. Jeder Fleck, jeder Riss, jede fehlende Franse erzählt eine Geschichte. Man kann das nicht kaufen. Man muss es erleben.

Manchmal, wenn ich abends allein bin und nur die Lampe brennt, sehe ich Gertrud vor mir. Wie sie in unserem ersten winzigen Apartment stand, die Hände in die Hüften gestemmt, und sagte: "Ihr werdet schon sehen, die Lampe bringt euch Glück."

Damals hab ich innerlich die Augen verdreht. Glück? Von einer hässlichen Lampe?

Heute denke ich: Vielleicht hatte sie recht. Nicht die Lampe hat uns Glück gebracht. Aber sie war dabei. Bei allem. Beim Glück und beim Unglück, bei den guten und den schlechten Zeiten. Sie ist der stille Zeuge unseres Lebens.

Und wenn ich so drüber nachdenke: Ist das nicht eine Form von Glück? Dass manche Dinge bleiben, während sich alles andere ändert? Dass es Konstanten gibt in diesem verrückten Leben?

Die Lampe wird bleiben. Mit all ihren Macken. Solange sie hält, solange wir hier sind. Und wenn Tim sie irgendwann erbt – oder Lena die Fransen –, dann werden sie ihren Kindern erzählen: "Die ist von Urgroßtante Gertrud. Die hat Oma und Opa zur Hochzeit geschenkt."

Und vielleicht werden ihre Kinder auch die Augen verdrehen. Vielleicht werden sie fragen: "Warum habt ihr so ein hässliches Ding?"

Und dann werden Tim oder Lena sagen, was wir heute sagen: "Das ist eine lange Geschichte."

Eine Geschichte, die weitergeht. Unter goldenen Fransen, mit einem Riss, der aussieht wie ein Blitz. In einem Wohnzimmer, wo nicht alles perfekt ist, aber alles echt. Wo gelebt wird, gelacht wird, manchmal gestritten wird. Wo die Lampe von der Decke hängt wie ein hässlicher, liebgewonnener Schutzengel.

Tante Gertrud, wo immer du bist: Die Lampe hängt noch. Und ja, sie bringt Licht in unser Leben. Auf ihre ganz eigene, fransige Art.