Der Brief mit dem roten Stempel: Wie wir beinahe 300 Euro verloren hätten

Der Brief mit dem roten Stempel – oder wie wir fast 300 Euro für nichts bezahlt hätten
Es war ein ganz normaler Dienstagmorgen. Stefan holte die Post, ich machte Kaffee, und dann hörte ich nur ein langgezogenes „Was zur Hölle...?" aus dem Flur. Er kam in die Küche, in der Hand einen Brief mit fettem rotem Aufdruck: LETZTE MAHNUNG.
„Kennst du die Firma MediaShop24?" fragte er und wedelte mit dem Schreiben. Ich schüttelte den Kopf. Noch nie gehört. Stefan las vor: „Sehr geehrter Herr Weber, trotz mehrfacher Mahnung haben Sie unsere Rechnung über 287,43 Euro nicht beglichen. Wir haben die Angelegenheit daher an unser Inkassobüro übergeben. Mit Inkassogebühren und Verzugszinsen schulden Sie nun 412,78 Euro."
Mein erster Gedanke: Haben wir was vergessen? Du kennst das vielleicht – dieses mulmige Gefühl, wenn man sich fragt, ob man vielleicht doch irgendwas bestellt und dann vergessen hat. Stefan ging sofort an den Laptop, durchforstete seine Mails, die Kontoauszüge, alles. Nichts. Keine MediaShop24, keine Bestellung, keine 287 Euro.
„Das muss ein Fehler sein", sagte ich. Stefan nickte, aber ich sah ihm an, dass er nervös war. Der Brief sah so... offiziell aus. Mit Aktenzeichen, Paragraphen, und ganz unten stand in fetten Buchstaben: „Bei Nichtzahlung droht Pfändung." Das Wort Pfändung macht was mit einem, auch wenn man weiß, dass man nichts schuldet.
Während Stefan weiter recherchierte, fiel mir unsere Nachbarin ein, Frau Krüger. Die hatte letztes Jahr auch so einen Brief bekommen. Von einem Gewinnspielservice, den sie nie abonniert hatte. Sie hatte aus Panik gezahlt – 180 Euro. Erst Wochen später stellte sich heraus, dass es Betrug war. Das Geld war weg, die Firma aufgelöst, Pech gehabt.
„Wir zahlen nichts", entschied Stefan. „Erst mal rausfinden, was das soll." Er hatte recht, aber trotzdem... dieser Brief lag den ganzen Tag wie ein Stein im Magen. Man macht sich Gedanken. Was, wenn die wirklich den Gerichtsvollzieher schicken? Was, wenn das unsere Schufa ruiniert?
Am Abend saßen wir zusammen und haben systematisch recherchiert. Das Internet ist voll von solchen Geschichten. Erschreckend, wie viele Menschen betroffen sind. Aber auch beruhigend – wir waren nicht allein, und es gab Informationen, was zu tun ist.
Das Wichtigste, was wir gelernt haben: In Deutschland gilt die Beweislastumkehr. Klingt kompliziert, bedeutet aber einfach: Wer Geld will, muss beweisen, dass er es auch verdient hat. Nicht du musst beweisen, dass du nichts schuldest – das Inkassobüro muss beweisen, dass du was schuldest. Das war mir neu. Ich dachte immer, wenn so ein offizieller Brief kommt, muss da was dran sein.
Stefan hat dann einen Musterbrief im Internet gefunden. Ganz einfach eigentlich: „Sehr geehrte Damen und Herren, ich bestreite die von Ihnen geltend gemachte Forderung in voller Höhe. Bitte senden Sie mir umgehend einen Nachweis über das Zustandekommen der Forderung zu, insbesondere den angeblichen Vertragsschluss und die Originalrechnung."
Mehr nicht. Kein langes Rechtfertigen, kein Erklären. Einfach: Ich schulde nichts, beweist das Gegenteil. Stefan hat den Brief noch am selben Abend geschrieben und am nächsten Morgen als Einschreiben verschickt. 5,95 Euro für die Seelenruhe, das war es uns wert.
Die Wartezeit war nervig. Jeden Tag schaute ich in den Briefkasten, halb in der Erwartung, dass der Gerichtsvollzieher vor der Tür steht. Totaler Quatsch natürlich. So schnell geht das nicht. Tatsächlich kann ein Inkassobüro gar nichts machen, außer Briefe schreiben und drohen. Für alles andere brauchen sie einen gerichtlichen Mahnbescheid, und den gibt's nur, wenn sie ihre Forderung belegen können.
Nach zwei Wochen kam die Antwort. Ein dünner Brief, ganz anders als die dicke Drohung vorher. Das Inkassobüro teilte mit, dass sie die Angelegenheit „nochmals prüfen" würden und wir „bis zur Klärung" keine weiteren Schreiben erhalten würden. Stefan lachte. „Übersetzung: Wir haben nichts in der Hand und hoffen, dass ihr das vergesst."
Aber es wurde noch besser. Stefan hatte nämlich parallel zur Verbraucherzentrale Kontakt aufgenommen. Die kannten MediaShop24 bereits. Eine Firma, die angeblich Elektronik verkauft, aber hauptsächlich damit beschäftigt ist, Leuten Rechnungen für nie getätigte Bestellungen zu schicken. Die Masche: Von tausend Briefen zahlen vielleicht fünfzig Leute aus Angst. Das reicht, um Profit zu machen.
Die Dame von der Verbraucherzentrale war super. Sie erklärte uns, dass seriöse Inkassobüros ganz anders arbeiten. Die schicken nicht sofort Drohbriefe mit Pfändungsankündigung, sondern erstmal eine sachliche Zahlungsaufforderung. Mit allen Informationen: Wann wurde was bestellt, welche Rechnung ist offen, wann wurde gemahnt. Und die Gebühren müssen aufgeschlüsselt und angemessen sein. Bei uns? Nichts davon. Nur Drohungen und überhöhte Gebühren.
Es gibt übrigens ein Gesetz gegen unseriöse Inkassopraktiken. Seit 2013 ist genau geregelt, was Inkassobüros dürfen und was nicht. Die Gebühren sind gedeckelt – für eine einfache Forderung unter 500 Euro dürfen sie maximal etwa 70 Euro verlangen, nicht 125 wie in unserem Fall. Und sie dürfen nicht mit Dingen drohen, die sie gar nicht durchsetzen können. Keine „Pfändung" ohne Gerichtstitel, keine „Schufa-Eintragung" ohne berechtigte Forderung.
Interessant war auch, was die Verbraucherschützerin über die Psychologie dahinter erzählte. Diese Briefe sind absichtlich so gestaltet, dass sie Angst machen. Rote Schrift, offizielle Sprache, kurze Fristen. Das ist kein Zufall, sondern Kalkül. Menschen unter Druck treffen schlechte Entscheidungen. Sie zahlen, um ihre Ruhe zu haben, auch wenn sie eigentlich wissen, dass sie nichts schulden.
Die Zielgruppe sind oft ältere Menschen oder Leute, die sich mit Recht nicht auskennen. Meine Tante zum Beispiel, 72 Jahre alt, hätte wahrscheinlich sofort gezahlt. „Bevor es Ärger gibt", wie sie immer sagt. Dabei ist es genau andersrum: Wer unberechtigte Forderungen zahlt, bekommt oft erst recht Ärger. Denn das wird als Schuldanerkenntnis gewertet. Und plötzlich kommen weitere Forderungen, weil man ja ein „guter Kunde" ist.
Wir haben übrigens auch bei der zuständigen Aufsichtsbehörde Beschwerde eingereicht. Inkassobüros brauchen in Deutschland eine Registrierung, und die kann entzogen werden, wenn sie sich nicht an die Regeln halten. Das wusste ich vorher auch nicht. Man kann auf der Website des Rechtsdienstleistungsregisters nachschauen, ob ein Inkassobüro überhaupt zugelassen ist. Unseres war es – gerade so. Aber es gab schon mehrere Beschwerden.
Nach vier Wochen kam dann der erlösende Brief. Das Inkassobüro teilte mit, dass „nach erneuter Prüfung keine Forderung besteht" und die Angelegenheit „als erledigt betrachtet" werde. Keine Entschuldigung, kein Bedauern. Einfach: War nichts, tschüss. Stefan wollte auf Schadensersatz klagen, wegen der ganzen Aufregung. Aber ehrlich? Wir waren einfach nur froh, dass es vorbei war.
Was haben wir daraus gelernt? Eine Menge. Zum Beispiel, dass man bei merkwürdigen Forderungen immer erstmal tief durchatmen sollte. Panik ist ein schlechter Ratgeber. Dann: Alles schriftlich machen. Jeden Brief aufheben, jede Mail speichern. Man weiß nie, ob man es nicht doch noch braucht. Und das Wichtigste: Sich nicht einschüchtern lassen. Die meisten dieser Drohungen sind heiße Luft.
Stefan hat seitdem eine Liste angelegt mit Dingen, die man beachten sollte. Klingt übertrieben, aber nach unserem Erlebnis finde ich das gut. Da steht zum Beispiel drin: Niemals am Telefon irgendwas zusagen oder gar Bankdaten durchgeben. Immer schriftlich widersprechen, am besten per Einschreiben. Keine Ratenzahlung vereinbaren – das gilt als Anerkennung. Und wenn man unsicher ist: professionelle Hilfe holen.
Die Verbraucherzentralen bieten übrigens kostenlose Beratung an. Manchmal reicht schon ein Anruf, um Klarheit zu bekommen. Die kennen die schwarzen Schafe der Branche und können einschätzen, ob eine Forderung ernst zu nehmen ist oder nicht. Bei uns hätte ein Anruf gleich am ersten Tag viel Stress erspart. Aber hinterher ist man immer schlauer.
Was mich wirklich ärgert: Wie viele Menschen zahlen aus Angst? Die Dunkelziffer muss riesig sein. Jeder, der zahlt, finanziert dieses System. Und ermutigt die Betrüger weiterzumachen. Dabei wäre es so einfach: Wenn niemand unberechtigte Forderungen zahlen würde, wäre das Geschäftsmodell tot.
Neulich habe ich mit meiner Friseurin darüber gesprochen. Sie hatte auch mal so einen Fall. Angeblich hatte sie ein Zeitschriften-Abo nicht gekündigt. 240 Euro sollte sie zahlen. Sie hat sich gewehrt, ist zur Polizei gegangen. Die haben gesagt: „Zivilsache, da können wir nichts machen." Aber sie haben ihr geraten, Anzeige wegen versuchten Betrugs zu erstatten. Hat sie gemacht. Die Forderung wurde fallengelassen.
Das ist nämlich auch wichtig: Dokumentieren und anzeigen. Auch wenn bei der einzelnen Anzeige vielleicht nichts rauskommt – wenn sich die Anzeigen häufen, wird irgendwann ermittelt. Und manche dieser Inkassobüros sind tatsächlich kriminelle Organisationen. Da geht es nicht um ein paar vergessene Rechnungen, sondern um organisierten Betrug.
Es gibt übrigens auch seriöse Inkassobüros. Die machen einen wichtigen Job – ohne sie würden viele kleine Unternehmen auf ihren Forderungen sitzenbleiben. Aber die arbeiten anders. Transparent, nachvollziehbar, fair. Die drohen nicht gleich mit der Keule, sondern versuchen erstmal, eine Lösung zu finden. Ratenzahlung, Stundung, Vergleich. Und vor allem: Die können ihre Forderungen belegen.
Ein Bekannter von uns arbeitet bei so einem seriösen Inkassounternehmen. Er sagt, die schwarzen Schafe schaden der ganzen Branche. Wegen denen haben alle Inkassobüros einen schlechten Ruf. Dabei geht es den meisten nur darum, berechtigte Forderungen einzutreiben. Für Unternehmen, die sonst pleitegehen würden.
Er hat mir auch erklärt, wie das technisch abläuft. Ein Unternehmen hat eine offene Forderung, mahnt zweimal selbst, dann gibt es den Fall ans Inkasso. Das Inkassobüro kauft die Forderung oder arbeitet auf Provision. Es schreibt den Schuldner an, versucht eine Einigung. Wenn das nicht klappt, kann es vor Gericht gehen. Aber nur, wenn die Forderung wasserdicht ist. Alles andere wäre Geldverschwendung.
Bei uns war von Anfang an klar, dass da was faul war. Keine Originalrechnung, keine Mahnung, keine Details. Nur eine Behauptung und viel Gedrohe. Das ist kein seriöses Inkasso, das ist Abzocke. Und dagegen kann man sich wehren. Muss man sich wehren.
Die Geschichte hat übrigens noch ein Nachspiel. Drei Monate später bekamen wir wieder Post von einem Inkassobüro. Einem anderen diesmal. Gleiche Forderung, anderer Absender. Stefan lachte nur noch. „Die verkaufen die Adressen untereinander", meinte er. Diesmal haben wir nur einen Standardbrief geschickt: Forderung bereits bestritten, kein Nachweis erbracht, weitere Schreiben werden als Belästigung angezeigt. Ruhe war.
Aber ich frage mich: Wie viele Leute bekommen solche Briefe und trauen sich nicht zu wehren? Wie viele zahlen, weil sie Angst haben vor Konsequenzen, die es gar nicht gibt? Wie viele verschulden sich, um ungerechtfertigte Forderungen zu begleichen?
Das System funktioniert nur, weil viele Menschen ihre Rechte nicht kennen. Weil sie glauben, ein offiziell aussehender Brief muss stimmen. Weil sie Angst vor Autoritäten haben. Das ist traurig. Und es ist vermeidbar.
Wenn ich eins gelernt habe aus dieser Geschichte, dann das: Man darf sich nicht alles gefallen lassen. Auch nicht von Firmen mit wichtig klingenden Namen und roten Stempeln. Recht hat nur, wer Recht beweisen kann. Und solange das nicht passiert ist, schuldet man gar nichts.
Stefan hat neulich gesagt: „Weißt du was das Ironische ist? Hätten wir gezahlt, wären wir jetzt 413 Euro los. So haben wir nur 6 Euro für das Einschreiben ausgegeben. Und eine wichtige Lektion gelernt." Er hat recht. Manchmal ist Widerstand nicht nur möglich, sondern auch profitabel.
Übrigens: Falls dir sowas mal passiert – und die Wahrscheinlichkeit ist leider gar nicht so klein – hier ein paar konkrete Tipps aus unserer Erfahrung: Erstmal Ruhe bewahren. Dann prüfen: Kenne ich die Firma? Habe ich da was bestellt? Stimmen die Daten? Wenn nein: Schriftlich widersprechen, kurz und knapp. Beweise verlangen. Alles dokumentieren. Bei Unsicherheit: Verbraucherzentrale oder Anwalt fragen. Niemals unter Druck zahlen. Und ganz wichtig: Nicht einschüchtern lassen.
Die meisten dieser Inkasso-Drohbriefe sind wie bellende Hunde hinter einem Zaun. Viel Lärm, aber kein Biss. Man muss nur wissen, dass der Zaun da ist. Und dass man auf der sicheren Seite steht.
Gestern kam übrigens wieder ein komischer Brief. Diesmal für mich. Angeblich hätte ich bei einem Gewinnspiel mitgemacht und müsste jetzt die „Bearbeitungsgebühr" zahlen. 89 Euro. Ich hab den Brief Stefan gezeigt. Er hat nur gegrinst. „Weißt du noch, unser Standardbrief?" Klar weiß ich den noch. Der liegt in der Schublade, gleich neben den Briefmarken. Für alle Fälle.
Es ist schon verrückt. Früher hätte uns so ein Brief in Panik versetzt. Heute? Heute wissen wir, was zu tun ist. Und das gibt einem ein gutes Gefühl. Das Gefühl, nicht hilflos zu sein. Sich wehren zu können. Seine Rechte zu kennen.
Vielleicht sollten wir das in der Schule lehren. Wie man mit Inkassobriefen umgeht. Was die eigenen Rechte sind. Wie man sich gegen Abzocke wehrt. Das wäre mal praktischer Unterricht. Besser als die Photosynthese zum fünften Mal durchzukauen.
Aber gut, das führt jetzt zu weit. Was ich sagen wollte: Lasst euch nicht unterkriegen. Nicht von Inkassobüros, nicht von roten Stempeln, nicht von Drohungen. Ihr habt Rechte. Nutzt sie. Es lohnt sich.
Ach ja, fast vergessen: Die MediaShop24 gibt es übrigens nicht mehr. Aufgelöst, nachdem zu viele Beschwerden kamen. Die Hintermänner machen jetzt wahrscheinlich unter anderem Namen weiter. Das Spiel geht von vorne los. Aber wir sind vorbereitet. Und ihr jetzt hoffentlich auch.