Restmüll-Drama in Schwabing: Warum unsere Tonnen explodierten – und wie wir das Problem endlich lösten

Vorgestern kam Thomas nach Hause, schmiss seine Tasche in die Ecke und sagte nur: „Die Tonnen quellen schon wieder über. Und rate mal, wessen Paketkartons oben drauf liegen."
Ich wusste sofort, was er meinte. Die unvergesslichen Amazon-Kartons von unserem Großeinkauf letzte Woche – Winterschuhe für die Kinder, ein neuer Staubsauger, diese Küchenmaschine, die ich unbedingt haben wollte. Alles schön zerkleinert und gefaltet, aber trotzdem... unsere Adresse war noch drauf. Wie peinlich.
„Frau Brenner von der Zwei hat mich schon angesprochen", fuhr Thomas fort und schenkte sich erstmal ein Bier ein. Ein kaltes Augustiner, seine Nervennahrung nach solchen Tagen. „Sie meinte, wenn das so weitergeht, ruft sie die Hausverwaltung an."
Wir wohnen seit acht Jahren in diesem Altbau in München-Schwabing. Vierter Stock, Stuck an den Decken, knarrende Dielen – ihr wisst schon, diese typischen Häuser aus der Gründerzeit. Romantisch, ja, aber mit 16 Parteien und nur vier Mülltonnen im Hinterhof ist das mit dem Müll so eine Sache. Besonders seit Corona, wo alle mehr online bestellen und entsprechend mehr Verpackungsmüll anfällt.
Ich erinnere mich noch an unseren Einzug damals. Die Maklerin hatte uns stolz den „grünen Innenhof" gezeigt. Grün war er wirklich – mit alten Kastanien, ein paar Fahrradständern und eben diesem Müllhäuschen in der Ecke. Was sie nicht erwähnte: Dass diese vier Tonnen für 16 Haushalte niemals ausreichen würden.
„Weißt du was", sagte ich zu Thomas, während ich das Gemüse fürs Abendessen schnippelte, „lass uns mal ausrechnen, was hier eigentlich schiefläuft."
Thomas, der Ingenieur in ihm kam sofort durch. Er holte sein Tablet und fing an zu rechnen. „Also, laut Abfallwirtschaftsbetrieb München produziert jeder Einwohner etwa 35 Kilo Restmüll pro Jahr. Bei durchschnittlich 2,2 Personen pro Haushalt..."
Ich musste schmunzeln. Typisch Thomas. Bei ihm wird aus jedem Problem eine Excel-Tabelle. Aber er hatte einen Punkt. Die Stadt München kalkuliert tatsächlich mit bestimmten Müllmengen pro Kopf. Die Hausverwaltungen müssen entsprechend Tonnen bereitstellen. Nur – und das ist der Knackpunkt – diese Berechnungen stammen oft noch aus den 90ern. Damals gab's kein Amazon Prime, keine Lieferdienste, keine HelloFresh-Boxen.
Während Thomas rechnete, dachte ich an letzten Sommer. Da hatten wir schon mal richtig Ärger. Die Familie Nguyen aus dem zweiten Stock hatte eine große Feier, vietnamesisches Neujahrsfest, glaube ich. Wunderbar, die ganze Nachbarschaft war eingeladen, es duftete nach Frühlingsrollen und Pho. Aber am nächsten Tag... die Tonnen waren so voll, dass der Deckel nicht mal mehr zuging. Drei Tage lang, bis zur nächsten Abfuhr.
Was dann passierte, war wie aus einem schlechten Film. Erst kamen die Wespen. Dann die Ratten – ja, mitten in Schwabing, stellt euch vor. Und dann kam Herr Dietrich aus dem Erdgeschoss, pensionierter Richter, und drohte mit rechtlichen Schritten. Er sprach von „Verkehrssicherungspflicht" und „fahrlässiger Gesundheitsgefährdung".
Die Sache mit der Verkehrssicherungspflicht ist tatsächlich kein Witz. Ich hab mich damals schlau gemacht, nachdem Herr Dietrich seine Drohung ausgesprochen hatte. In Deutschland ist der Grundstückseigentümer – also in unserem Fall die Hausverwaltung – verpflichtet, Gefahrenquellen zu beseitigen. Überquellende Mülltonnen können durchaus als Gefahrenquelle gelten. Wenn jemand ausrutscht auf einer Bananenschale, die neben der Tonne liegt, oder von Ratten gebissen wird... theoretisch kann das teuer werden.
Aber die Realität ist komplizierter. Die Hausverwaltung kann sich rausreden, wenn sie nachweist, dass eigentlich genug Tonnen da sind – nach ihrer Berechnung. Und die Mieter? Die können belangt werden, wenn sie den Müll falsch entsorgen oder zu viel produzieren. Ein rechtlicher Graubereich, wie so oft.
Thomas hatte mittlerweile seine Berechnung fertig. „Schau mal", sagte er und zeigte mir das Tablet. „Nach aktuellen Standards bräuchten wir mindestens sechs 240-Liter-Tonnen für Restmüll. Wir haben vier. Kein Wunder, dass es nicht reicht."
Ich nickte und rührte weiter in der Pfanne. Paprika, Zwiebeln, ein bisschen Knoblauch. Der Duft erfüllte langsam unsere Küche. „Erinnerst du dich noch an die WG in der Türkenstraße?", fragte ich. „Da hatten wir das gegenteilige Problem."
Thomas lachte. Die WG, unsere erste gemeinsame Wohnung vor fünfzehn Jahren. Sechs Studenten, ein Müllchaos sondergleichen. Aber da war es anders – wir hatten zu viele Tonnen für zu wenige Leute. Die Hausverwaltung hatte vergessen, die Tonnenzahl anzupassen, nachdem aus dem Bürogebäude ein Wohnhaus wurde.
„Wir sollten mal mit den anderen Mietern reden", schlug ich vor. „Vielleicht können wir gemeinsam was erreichen."
Die Idee war gut, aber die Umsetzung... na ja. Ihr kennt das vielleicht. In einem Mehrfamilienhaus ist es wie in einem Mikrokosmos der Gesellschaft. Da gibt's die Ordnungsfanatiker wie Frau Brenner, die jeden Joghurtbecher ausspült, bevor er in den gelben Sack kommt. Die Gleichgültigen wie das junge Paar aus dem dritten Stock, die alles in eine Tonne werfen. Und die Heimlichen – niemand weiß, wer sie sind, aber irgendjemand stellt regelmäßig alte Möbel neben die Tonnen.
Letzte Woche hab ich einen interessanten Artikel in der SZ gelesen. Da ging es um die Psychologie des Müllverhaltens. Offenbar gibt es tatsächlich verschiedene „Müllpersönlichkeiten". Die Perfektionisten, die alles korrekt trennen. Die Pragmatiker, die es versuchen, aber nicht übertreiben. Und die Verweigerer, denen es schlicht egal ist. In unserem Haus haben wir definitiv alle drei Typen.
Der Artikel erwähnte auch etwas Faszinierendes: In Häusern, wo die Mülltonnen sauber und ordentlich sind, werfen Menschen automatisch weniger daneben. Das nennt sich „Broken-Windows-Theorie". Sieht ein Ort verwahrlost aus, behandeln ihn die Leute auch so. Ist er gepflegt, benehmen sich alle besser. Klingt logisch, oder?
Bei uns ist es ein Teufelskreis. Die Tonnen sind voll, also stellen Leute Tüten daneben. Sind Tüten da, denken andere, es sei okay, noch mehr dazuzustellen. Und schwupps – sieht's aus wie auf einer Müllkippe.
Thomas hatte mittlerweile die Initiative ergriffen und einen Aushang für den Hausflur geschrieben. Sehr diplomatisch formuliert: „Liebe Nachbarn, wie wäre es mit einem gemeinsamen Gespräch über unsere Müllsituation?" Mit Doodle-Link für die Terminfindung. Sehr Thomas eben.
Die Resonanz war... durchwachsen. Von 16 Haushalten haben sich sechs zurückgemeldet. Besser als nichts, dachte ich. Also trafen wir uns letzten Donnerstag im Hinterhof. Mit Glühwein, das lockert die Stimmung.
Frau Brenner kam als Erste, natürlich pünktlich auf die Minute. Dann das junge Paar, Lisa und Mark. Die Nguyens. Herr Dietrich mit Notizblock. Und überraschenderweise auch der mysteriöse Herr Kowalski aus dem Dachgeschoss, den man sonst nie sieht.
„Also", begann Thomas, „wir haben ein Problem mit zu wenig Tonnenfläche. Die Frage ist: Was können wir tun?"
Herr Dietrich meldete sich sofort. „Rechtlich gesehen ist die Hausverwaltung in der Pflicht. Paragraph 3 der Abfallwirtschaftssatzung besagt eindeutig..."
„Jürgen", unterbrach ihn Frau Brenner, „wir wollen doch keine Klage einreichen. Wir wollen eine Lösung."
Interessant war, was dann passierte. Plötzlich sprudelten die Ideen. Lisa erzählte von ihrem alten Wohnhaus, wo sie ein Mülltonnen-Sharing-System hatten. Wer mehr Müll hatte, zahlte einen kleinen Obolus an die Hausgemeinschaft. Das Geld wurde für zusätzliche Sonderabfuhren verwendet.
Herr Kowalski, der sonst nie was sagt, überraschte uns alle: „In Polen, wo ich herkomme, haben viele Häuser Müllpressen. Die reduzieren das Volumen um 70 Prozent."
Das wäre tatsächlich eine Option. Ich hab später recherchiert – so eine kleine Müllpresse für Mehrfamilienhäuser kostet etwa 3.000 Euro. Klingt viel, aber aufgeteilt auf 16 Haushalte...
Die Nguyens hatten einen anderen Vorschlag. Sie kannten jemanden bei der Stadt, der für die Abfallberatung zuständig ist. „Der kommt kostenlos vorbei und analysiert die Situation", sagte Frau Nguyen. „Vielleicht haben wir Anspruch auf mehr Tonnen."
Während alle diskutierten, fiel mir auf, wie unterschiedlich die Leute mit dem Thema umgingen. Für manche war es ein rein praktisches Problem. Für andere eine Frage der Gerechtigkeit – wer produziert wie viel Müll? Und für wieder andere ging es ums Prinzip – die Hausverwaltung soll gefälligst ihrer Pflicht nachkommen.
Diese verschiedenen Perspektiven erinnerten mich an etwas, was ich mal in einem Buch über Konfliktlösung gelesen habe. Da hieß es, dass Menschen Probleme auf drei Ebenen wahrnehmen: sachlich, emotional und beziehungsmäßig. Bei uns im Haus war das Müllproblem eben nicht nur ein Platzproblem. Es ging auch um Respekt, um Rücksichtnahme, um das Gefühl, fair behandelt zu werden.
Nach zwei Stunden und drei Runden Glühwein hatten wir einen Plan. Thomas würde einen Brief an die Hausverwaltung schreiben, unterschrieben von allen Anwesenden. Die Nguyens würden den Kontakt zur Stadt herstellen. Und wir würden erstmal zwei Wochen lang dokumentieren, wie die Müllsituation tatsächlich aussieht. Mit Fotos, Datum, Uhrzeit.
Frau Brenner bot an, eine WhatsApp-Gruppe zu gründen. „Für die Koordination", sagte sie. Innerlich musste ich grinsen. Eine Müll-WhatsApp-Gruppe. Willkommen in Deutschland.
Die Dokumentation war aufschlussreich. Wir merkten schnell, dass montags und donnerstags die kritischen Tage waren. Montags, weil übers Wochenende viel anfällt. Donnerstags, weil da viele ihre Wocheneinkäufe machen und die Verpackungen entsorgen.
Noch interessanter: Die Biotonne war fast immer halb leer. Viele Leute wussten offenbar nicht, was da alles rein darf. Kaffeesatz, Eierschalen, sogar Küchenpapier – alles kein Problem. Aber viele warfen es in den Restmüll.
Der Mann von der Stadt kam tatsächlich. Ein junger Typ, sehr engagiert. Er lief mit seinem Klemmbrett rum, machte Fotos, stellte Fragen. Seine Diagnose: „Sie haben definitiv zu wenig Restmüllkapazität. Aber Ihre Biotonne ist unterdimensioniert genutzt. Und wo ist eigentlich Ihre Wertstofftonne?"
Wertstofftonne? Davon hatten wir noch nie gehört. Stellt sich raus: In München gibt es seit 2018 die Möglichkeit, eine zusätzliche Tonne für Wertstoffe zu beantragen. Da kommt alles rein, was recycelbar ist, aber nicht in den gelben Sack gehört. Alte Töpfe, kaputtes Spielzeug, Kleiderbügel. Kostenlos.
Das war eine Offenbarung. Warum wusste niemand davon? Der Berater schmunzelte. „Das ist typisch. Die Kommunikation zwischen Stadt und Bürgern... da gibt's Verbesserungspotential."
Er gab uns noch mehr Tipps. Zum Beispiel, dass man bei der Stadt kostenlos Müllsäcke für Sonderabfälle bekommt. Oder dass es mobile Schadstoffsammlungen gibt, die regelmäßig vorbeikommen. All diese Infos, die irgendwo auf der Stadtwebsite versteckt sind, aber niemand findet.
Thomas' Brief an die Hausverwaltung war ein Meisterwerk der Diplomatie. Keine Vorwürfe, keine Drohungen. Nur Fakten, garniert mit dem Gutachten des Stadtberaters. Und der Hinweis, dass eine bessere Müllentsorgung auch den Wert der Immobilie steigert.
Die Antwort kam schneller als erwartet. Zwei Wochen später. Die Hausverwaltung würde zwei zusätzliche Restmülltonnen beantragen und eine Wertstofftonne. Außerdem würden sie einen Reinigungsdienst beauftragen, der einmal wöchentlich den Müllplatz säubert. Die Kosten würden auf die Nebenkosten umgelegt – etwa 3 Euro mehr pro Haushalt und Monat.
Drei Euro. Dafür hatten wir wochenlang diskutiert, dokumentiert, verhandelt. Aber wisst ihr was? Es ging ja nie nur ums Geld.
Letzte Woche, als die neuen Tonnen geliefert wurden, standen tatsächlich fast alle Nachbarn am Fenster oder kamen runter. Es war wie ein kleines Fest. Herr Dietrich nickte anerkennend. Frau Brenner strahlte. Sogar das junge Paar hatte sich extra Zeit genommen.
„Seht ihr", sagte Thomas später, als wir wieder an unserem Küchentisch saßen, „manchmal muss man die Dinge nur ansprechen."
Ich nippte an meinem Wein – ein einfacher Grauburgunder, nichts Besonderes – und dachte nach. Die ganze Müllgeschichte hatte uns als Hausgemeinschaft zusammengeschweißt. Wir grüßen uns jetzt anders, reden mehr miteinander. Die WhatsApp-Gruppe existiert immer noch, auch wenn's jetzt mehr um andere Themen geht. Letzte Woche fragte jemand, ob wer einen guten Klempner kennt. Drei Empfehlungen binnen zehn Minuten.
Was ich daraus gelernt habe? Dass viele Probleme im Zusammenleben entstehen, weil niemand den ersten Schritt macht. Weil alle denken, es sei nicht ihre Verantwortung. Oder weil man Konflikte scheut.
Dabei ist es oft gar nicht so schwer. Man muss nur anfangen zu reden. Sich zusammensetzen. Gemeinsam nach Lösungen suchen. Und manchmal hilft ein Glühwein dabei.
Die Mülltonnen-Saga ist jetzt vorbei. Die Tonnen sind nie mehr überfüllt. Der Hof ist sauber. Die Ratten sind verschwunden. Aber was bleibt, ist mehr als das. Es ist das Gefühl, dass wir als Gemeinschaft etwas bewegt haben. Dass wir nicht nur nebeneinander, sondern miteinander wohnen.
Neulich sagte Frau Nguyen zu mir: „Weißt du, in Vietnam sagt man: ‚Bessere Nachbarn in der Nähe als Verwandte in der Ferne.' Jetzt verstehe ich, was das bedeutet."
Ich auch. Nach all den Jahren in diesem Haus, nach all den kleinen und großen Dramen, verstehe ich es auch. Nachbarschaft ist mehr als nur räumliche Nähe. Es ist eine Entscheidung. Die Entscheidung, sich zu kümmern, sich einzumischen, Verantwortung zu übernehmen.
Und wenn das bedeutet, dass man mal zwei Stunden im Hinterhof steht und über Mülltonnen diskutiert – sei's drum. Es gibt Schlimmeres. Und am Ende hat man vielleicht nicht nur sauberere Tonnen, sondern auch ein besseres Miteinander.
Ach ja, noch ein praktischer Tipp, den uns der Stadtberater gegeben hat: Fotografiert einmal im Quartal eure Müllsituation. Wenn's Probleme gibt, habt ihr Beweise. Und wenn nicht, habt ihr eine lustige Fotoserie über die Jahre. „Die Evolution unserer Mülltonnen" – könnte ein Kunstprojekt werden.
Thomas meint, ich übertreibe. Aber ich finde, auch im Banalen kann Poesie stecken. Sogar in Mülltonnen. Man muss nur genau hinschauen. Und manchmal... manchmal findet man dabei mehr als nur eine Lösung für ein praktisches Problem. Man findet Gemeinschaft.