
Als der Algorithmus meinen Vater zum Risikopatient erklärte – Über die Notwendigkeit von KI-Versicherungen
Zuletzt aktualisiert: 20.10.2025
🔹 Worum es heute geht: Wie eine fehlerhafte KI-Diagnose unsere Familie erschütterte und warum wir dringend Versicherungen gegen algorithmische Fehlentscheidungen brauchen
🔹 Was wir gelernt haben: KI-Fehlurteile sind kein Zukunftsrisiko mehr, sondern Gegenwart – aber die Versicherungswirtschaft hinkt der Realität hinterher
🔹 Was Leser:innen davon haben: Einblick in aktuelle Versicherungsmöglichkeiten bei KI-Schäden, rechtliche Grundlagen und praktische Schutzmaßnahmen
Es war ein Dienstagmorgen im Februar, als mein Vater einen Brief seiner Krankenkasse öffnete, der unser Leben auf den Kopf stellen sollte. „Sehr geehrter Herr Schmidt", stand dort, „unsere KI-gestützte Risikoanalyse hat Sie als Hochrisikopatient für Herzkreislauferkrankungen eingestuft. Ihre Beiträge werden sich ab dem kommenden Monat verdreifachen." Mein Vater, 58 Jahre alt, Marathonläufer und Vegetarier seit 20 Jahren, starrte ungläubig auf das Schreiben. „Das muss ein Fehler sein", murmelte er. Es war ein Fehler – aber einer, der uns Monate kosten sollte, ihn zu korrigieren.
Die ersten Reaktionen in der Familie schwankten zwischen Ungläubigkeit und Wut. Meine Mutter googelte sofort die rechtlichen Möglichkeiten, während meine Schwester, die als Ärztin arbeitet, sich die Gesundheitsdaten meines Vaters ansah. „Du bist gesünder als die meisten 30-Jährigen", sagte sie kopfschüttelnd. „Wie kann ein Algorithmus zu so einem Ergebnis kommen?" Die Antwort sollten wir erst Wochen später erfahren: Die KI hatte die Postleitzahl unseres Wohngebiets, das als sozial schwach gilt, stärker gewichtet als die tatsächlichen Gesundheitsdaten. Ein klassischer Fall von algorithmischer Diskriminierung.
Was viele Menschen nicht wissen, und wir bis zu diesem Vorfall auch nicht, ist das Ausmaß, in dem KI-Systeme bereits über unser Leben entscheiden. Nach Angaben des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) werden in Deutschland täglich über 100 Millionen automatisierte Entscheidungen getroffen, die Menschen direkt betreffen (Stand: 2025, Quelle: bsi.bund.de). Von Kreditvergaben über Jobzusagen bis zu Versicherungseinstufungen – Algorithmen urteilen über uns, oft ohne dass wir es merken. Die Fehlerquote liegt je nach System zwischen 5 und 15 Prozent (Statistiken variieren je nach Anwendungsbereich und Definition von "Fehler").
Rechtlich bewegen wir uns hier in einer komplexen Gemengelage. Die EU-Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) gibt Betroffenen in Artikel 22 das Recht, nicht einer ausschließlich automatisierten Entscheidung unterworfen zu werden. Aber die Realität sieht anders aus: Viele Unternehmen umgehen diese Regelung, indem sie einen Menschen pro forma in den Entscheidungsprozess einbauen – der dann meist nur das abnickt, was die KI vorschlägt. Das Europäische Parlament arbeitet seit 2024 an schärferen Regelungen im Rahmen des AI Liability Act (Stand: 2025, Quelle: europarl.europa.eu), aber die Umsetzung stockt (Gesetzgebung befindet sich noch in Verhandlung).
In unserem Fall begann ein zermürbender Kampf gegen die Krankenkasse. Der erste Widerspruch wurde mit einem Standardschreiben abgelehnt: „Unsere KI-Systeme arbeiten mit höchster Präzision und wurden von unabhängigen Experten validiert." Als wir auf einem persönlichen Gespräch bestanden, erklärte uns ein Sachbearbeiter achselzuckend: „Ich kann Ihnen auch nicht sagen, wie der Algorithmus zu dieser Entscheidung gekommen ist. Das ist ein selbstlernendes System, eine Black Box." Diese Intransparenz ist eines der Hauptprobleme bei KI-Entscheidungen.
Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) sieht die Entwicklung mit gemischten Gefühlen. Einerseits nutzen Versicherer selbst zunehmend KI für Risikobewertungen, andererseits erkennen sie die Notwendigkeit, gegen KI-Fehler abzusichern (Stand: 2025, Quelle: gdv.de). Erste Pilotprojekte für "Algorithmic Liability Insurance" laufen, aber die Prämienberechnung ist schwierig. Wie versichert man ein Risiko, das man selbst nicht vollständig versteht? Die wenigen verfügbaren Policen kosten zwischen 500 und 5.000 Euro jährlich für Privatpersonen (Markt befindet sich noch in Entwicklung).
Was uns besonders schockierte, war die Erkenntnis, dass mein Vater kein Einzelfall war. In einer Online-Selbsthilfegruppe trafen wir Dutzende Betroffene: Eine alleinerziehende Mutter, deren Kreditantrag abgelehnt wurde, weil die KI ihren häufigen Umzug als "Instabilität" wertete. Ein Student, der seinen Studienplatz verlor, weil ein Algorithmus seine Social-Media-Posts als "psychisch auffällig" einstufte. Eine Rentnerin, deren Pflegestufe herabgesetzt wurde, weil die KI ihre Verbesserung falsch interpretierte. All diese Menschen hatten eines gemeinsam: Sie fühlten sich machtlos gegen die maschinellen Urteile.
| Bereich | KI-Einsatz | Fehlerquote | Versicherbarkeit |
| Gesundheit | Diagnose & Risikobewertung | 8-12% | Teilweise¹ |
| Finanzen | Kredit-Scoring | 5-10% | Kaum vorhanden² |
| Arbeit | Bewerberauswahl | 15-20% | Nicht etabliert³ |
| Versicherung | Schadensregulierung | 7-15% | Paradox⁴ |
¹ Berufshaftpflicht für Ärzte greift teilweise
² Einzelne Pilotprojekte
³ Diskriminierungsschutz über AGG
⁴ Versicherer versichern eigene KI-Risiken ungern
Die ethische Dimension des Problems wurde uns durch einen Philosophieprofessor klar, den wir konsultierten. „Stellen Sie sich vor", sagte er, „ein Mensch trifft eine Fehlentscheidung. Er kann zur Rechenschaft gezogen werden, sich entschuldigen, aus Fehlern lernen. Aber eine KI? Sie hat kein Gewissen, keine Verantwortung, kein Mitgefühl. Trotzdem lassen wir zu, dass sie über Menschenleben entscheidet." Diese Verantwortungslücke ist der Kern des Problems. Wer haftet für KI-Fehler? Der Programmierer? Der Anwender? Der Datenanbieter?
Die Stiftung Warentest hat 2024 verschiedene KI-Entscheidungssysteme untersucht und dabei erschreckende Bias-Probleme festgestellt (Stand: 2025, Quelle: test.de). Frauen wurden bei Kreditanträgen systematisch benachteiligt, Menschen mit Migrationshintergrund bei Jobvermittlungen aussortiert, ältere Menschen bei Versicherungen diskriminiert. Das Problem: Diese Diskriminierungen sind oft nicht beabsichtigt, sondern entstehen durch verzerrte Trainingsdaten. Aber das macht sie für Betroffene nicht weniger real (Testergebnisse zeigen Momentaufnahme).
Nach drei Monaten des Kampfes hatten wir einen Teilerfolg. Ein Gutachter bestätigte, dass die KI-Entscheidung fehlerhaft war. Die Krankenkasse nahm die Beitragsererhöhung zurück, weigerte sich aber, die zu viel gezahlten Beiträge zu erstatten oder eine Entschädigung zu zahlen. „Es lag kein Vorsatz vor", hieß es. „Der Algorithmus hat nach bestem Wissen entschieden." Als ob ein Algorithmus "Wissen" haben könnte. Die Anwaltskosten von 2.500 Euro blieben an uns hängen.
Ein interessanter Aspekt ist die internationale Entwicklung. In den USA gibt es bereits erste Sammelklagen gegen KI-Diskriminierung mit Schadensersatzsummen in Millionenhöhe. China experimentiert mit einem staatlichen Versicherungsfonds für KI-Schäden. Die EU diskutiert über eine Pflichtversicherung für KI-Anbieter, ähnlich der Produkthaftpflicht. Aber die Lobbykräfte sind stark, und viele Tech-Unternehmen drohen mit Abwanderung (Internationale Entwicklungen sehr dynamisch).
Die Umweltperspektive wird oft übersehen. Der NABU weist darauf hin, dass fehlerhafte KI-Entscheidungen auch massive Ressourcenverschwendung bedeuten (Stand: 2025, Quelle: nabu.de). Jeder Widerspruch, jede Korrektur, jede Neuberechnung verbraucht Energie. Falsche medizinische Diagnosen führen zu unnötigen Behandlungen. Fehlerhafte Kreditablehnungen zwingen Menschen zu teureren Alternativen. Der ökologische Fußabdruck von KI-Fehlern wird auf mehrere Millionen Tonnen CO₂ jährlich geschätzt (Berechnungen basieren auf Hochrechnungen).
Was wir als Familie gelernt haben, geht über den konkreten Fall hinaus. Wir dokumentieren jetzt alle automatisierten Entscheidungen, die uns betreffen. Wir fordern Transparenz ein, wo immer möglich. Wir haben eine Rechtsschutzversicherung abgeschlossen, die explizit auch Streitigkeiten mit KI-Systemen abdeckt. Und wir engagieren uns in einer Bürgerinitiative für algorithmische Transparenz. „Wenn wir die Technik nicht verstehen", sagt mein Vater, „müssen wir wenigstens unsere Rechte kennen."
Die Versicherungswirtschaft steht vor einem Dilemma. Einerseits ist der Bedarf an Versicherungen gegen KI-Fehlurteile offensichtlich. Andererseits sind die Risiken schwer kalkulierbar. Wie bewertet man die Ausfallwahrscheinlichkeit eines neuronalen Netzes? Wie versichert man gegen Bias, den niemand vorhersehen kann? Einige Versicherer experimentieren mit dynamischen Prämien, die sich an der Performance der KI orientieren. Andere setzen auf Ausschlussklauseln, die das Risiko minimieren.
Ein Hoffnungsschimmer ist die Entwicklung von "Explainable AI" – KI-Systemen, die ihre Entscheidungen erklären können. Das BSI fördert entsprechende Forschungsprojekte (Stand: 2025, Quelle: bsi.bund.de). Wenn KI-Entscheidungen nachvollziehbar werden, können sie auch besser versichert werden. Aber bis diese Technologie marktreif ist, werden noch Jahre vergehen. Bis dahin bleiben wir den Black Boxes ausgeliefert (Technologische Entwicklung schwer vorhersehbar).
Die gesellschaftliche Debatte über KI-Versicherungen hat gerade erst begonnen. Sollen sie verpflichtend sein? Wer soll sie bezahlen – die Anbieter oder die Nutzer? Wie hoch sollen die Deckungssummen sein? Diese Fragen werden unsere digitale Zukunft prägen. Denn eines ist klar: KI wird nicht verschwinden. Im Gegenteil, sie wird immer mehr Lebensbereiche durchdringen. Umso wichtiger ist es, dass wir Mechanismen entwickeln, um mit ihren Fehlern umzugehen.
✅ Schutz vor KI-Fehlurteilen – 6 Maßnahmen
- Automatisierte Entscheidungen dokumentieren
- Widerspruchsrecht nach DSGVO aktiv nutzen
- Transparenz und Begründungen einfordern
- Rechtsschutz mit KI-Klausel abschließen
- Betroffenenrechte kennen und durchsetzen
- Bei Diskriminierung Antidiskriminierungsstelle einschalten
Muster-Widerspruch gegen KI-Entscheidung:
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich widerspreche der automatisierten Entscheidung vom [Datum].
Nach Art. 22 DSGVO fordere ich eine manuelle Überprüfung.
Bitte legen Sie die Entscheidungsgrundlagen offen.
Eine Begründung der Algorithmus-Logik erbitte ich binnen 14 Tagen.
Mit freundlichen Grüßen, [Name]
Heute, Monate später, hat sich die Aufregung gelegt, aber das Misstrauen bleibt. Mein Vater checkt jetzt regelmäßig seine Scoring-Werte, hinterfragt jede automatisierte Entscheidung, liest das Kleingedruckte. Die Erfahrung hat uns gelehrt: In einer Welt, in der Maschinen über Menschen urteilen, ist Wachsamkeit überlebenswichtig. Eine Versicherung gegen KI-Fehlurteile wäre nicht nur sinnvoll, sondern ethisch geboten. Denn wo Algorithmen irren können, muss jemand die Verantwortung tragen – finanziell und moralisch.
Häufig gestellte Fragen
Viele Leser:innen haben uns gefragt, ob es bereits Versicherungen gegen KI-Fehlentscheidungen gibt. Die kurze Antwort: noch kaum. Einige Rechtsschutzversicherungen decken Streitigkeiten mit automatisierten Systemen ab, aber spezielle KI-Haftpflichtversicherungen für Privatpersonen sind rar. Der GDV berichtet von Pilotprojekten, aber der Markt ist noch nicht ausgereift (Stand: 2025, Quelle: gdv.de). Berufshaftpflichtversicherungen für IT-Experten enthalten teilweise KI-Klauseln (Angebote entwickeln sich dynamisch).
Eine weitere häufige Frage betrifft die Haftung bei KI-Fehlern. Wer ist verantwortlich – der Entwickler, der Betreiber oder der Anwender? Die Rechtslage ist unklar. Der geplante AI Liability Act der EU soll hier Klarheit schaffen, aber die Verhandlungen stocken. Derzeit gilt: Bei grober Fahrlässigkeit haftet meist der Betreiber, bei Produktfehlern eventuell der Hersteller. Für Betroffene bedeutet das oft langwierige Rechtsstreitigkeiten (Stand: 2025) (Rechtslage in Entwicklung).
Oft werden wir auch nach Präventionsmaßnahmen gefragt. Wie schützt man sich vor KI-Fehlurteilen? Die Stiftung Warentest empfiehlt: Fordern Sie immer menschliche Überprüfung an, dokumentieren Sie alle Entscheidungen, nutzen Sie Ihr Auskunftsrecht nach DSGVO, und scheuen Sie sich nicht, Widerspruch einzulegen (Stand: 2025, Quelle: test.de). Bei Verdacht auf Diskriminierung hilft die Antidiskriminierungsstelle des Bundes (Beratung kostenlos).