
Letzte Woche Donnerstag, kurz nach sieben. Ich stand gerade am Herd und rührte in der Bolognese, als es plötzlich dunkel wurde. Nicht so ein kurzes Flackern, wo man denkt, gleich geht's wieder an. Nein, richtig dunkel. Die Dunstabzugshaube verstummte, der Kühlschrank hörte auf zu brummen, und aus dem Wohnzimmer kam ein empörtes „Hey!" von unserem Zwölfjährigen, der gerade mitten in seinem Online-Spiel war.
Mein Mann Thomas kam aus seinem Arbeitszimmer getappt. „Bei mir auch", sagte er nur und hielt sein Laptop hoch, auf dem der Bildschirm langsam erlosch. Unsere Jüngste, die siebenjährige Mia, kam die Treppe runtergerannt: „Mama, mein Nachtlicht ist aus!"
Weißt du, was komisch ist? In den ersten Sekunden wussten wir gar nicht, was wir tun sollten. Wir standen da in unserer dunkler werdenden Küche und schauten uns an wie Touristen, die sich verlaufen haben. Thomas wollte reflexartig sein Handy zücken, um nachzuschauen, was los ist – aber natürlich, kein WLAN. Der Router blinkte nicht mehr. Nichts blinkte mehr.
„Sicherungskasten?", fragte ich. Thomas nickte und tastete sich mit der Handytaschenlampe in den Keller. Ich hörte ihn da unten rumoren, Schalter klicken, dann kam er wieder hoch. „Alles drin. Muss wohl die ganze Straße sein."
Tatsächlich – ein Blick aus dem Fenster bestätigte es. Die Nachbarhäuser lagen auch im Dunkeln, nur hier und da leuchtete ein Handydisplay oder eine Taschenlampe auf. Frau Bergmann von gegenüber stand in ihrem Vorgarten und rief rüber: „Bei euch auch?" Wir nickten, obwohl sie das wahrscheinlich gar nicht sehen konnte.
Die Kinder fanden das erst mal aufregend. Jonas, unser Großer, kam aus seinem Zimmer und verkündete dramatisch, dass sein ganzer Fortschritt im Spiel jetzt futsch sei. Aber dann, als er merkte, dass wirklich gar nichts mehr ging – kein YouTube, keine Playstation, nicht mal der smarte Lautsprecher, der sonst immer bereitsteht – da wurde er still. „Was machen wir denn jetzt?", fragte er, und ich schwöre, er klang dabei wie ein kleiner Junge, nicht wie der Fast-Teenager, der er sonst so gerne ist.
„Kerzen suchen", sagte Thomas praktisch. Also kramten wir. Schubladen wurden durchwühlt, Schränke durchforstet. Mia fand die Geburtstagskerzen vom letzten Jahr, Jonas entdeckte ein paar Teelichter hinten im Badezimmerschrank. Ich erinnerte mich an die dicke rote Kerze, die meine Schwester uns mal zu Weihnachten geschenkt hatte – „für gemütliche Abende", hatte sie gesagt. Die stand noch originalverpackt im Wohnzimmerschrank.
Während wir so rumwuselten und Kerzen anzündeten, erzählte Thomas den Kindern, dass das früher ganz normal war. Stromausfälle, meine ich. Seine Oma in Ostfriesland hatte immer einen ganzen Schrank voller Kerzen und eine Petroleumlampe für Notfälle. „Die wusste noch, wie man ohne Strom lebt", sagte er und zündete gerade die fünfte Kerze an.
Es ist schon verrückt, wenn man drüber nachdenkt. Anthropologen sagen ja, dass der Mensch seit etwa 400.000 Jahren das Feuer kontrolliert nutzt. Aber elektrisches Licht? Das gibt's gerade mal seit knapp 150 Jahren in normalen Haushalten. Meine Urgroßmutter wurde noch bei Kerzenlicht geboren. Und jetzt stehen wir da und wissen nicht mal mehr, wo wir Kerzen aufbewahrt haben.
Die Bolognese auf dem Herd war mittlerweile kalt geworden. Zum Glück war sie schon fast fertig gewesen. „Nudeln können wir vergessen", stellte ich fest. Ohne Strom kein heißes Wasser. Also schnitt ich Brot auf, holte Käse und Wurst aus dem Kühlschrank – der hält ja die Kälte noch eine Weile – und wir machten ein improvisiertes Abendbrot.
Mia fand das toll. „Wie Camping!", rief sie begeistert und holte ihre Taschenlampe aus ihrem Zimmer, diese pinke mit den Glitzersternen drauf. Sie leuchtete jedem ins Gesicht, bis Jonas genervt sagte: „Mann, Mia, hör auf!" Aber er lächelte dabei.
Wir trugen alles ins Wohnzimmer. Die Kerzen hatten wir auf dem Couchtisch verteilt, ein paar auf dem Sideboard, eine auf dem Fensterbrett. Es sah aus wie bei einem dieser Pinterest-Bilder, die man unter „Hygge" findet – nur ungeplanter. Das Kerzenlicht warf tanzende Schatten an die Wände, und draußen hatte der Wind tatsächlich zugenommen. Man hörte ihn richtig pfeifen und an den Rollläden rütteln.
„Vielleicht ist ein Baum auf eine Leitung gefallen", spekulierte Thomas und biss in sein Wurstbrot. Jonas nickte wissend: „Ja, bei dem Wind." Als hätte er Ahnung von Stromleitungen und Bäumen. Aber es war süß, wie er versuchte, erwachsen zu wirken.
Nachdem wir gegessen hatten – und es schmeckte überraschend gut, dieses simple Abendbrot bei Kerzenlicht – saßen wir erst mal nur da. Keiner wusste so recht, was jetzt. Normalerweise hätte Thomas nach dem Essen noch was am Laptop gemacht, Jonas wäre wieder in seinem Zimmer verschwunden, Mia hätte noch eine Folge ihrer Lieblingsserie geschaut, und ich hätte wahrscheinlich die Spülmaschine angemacht und dann auf der Couch gescrollt.
Stattdessen saßen wir da. Vier Menschen, eine Familie, im Kerzenschein. Es war still. So still, dass man die Wanduhr ticken hörte – die läuft ja mit Batterie. „Komisch, wie leise es ohne den ganzen Kram ist", sagte Thomas irgendwann. Und er hatte recht. Normalerweise brummt ja immer irgendwas. Der Kühlschrank, die Heizung, irgendein Standby-Gerät. Jetzt war da nur Wind, Uhrenticken und wir.
„Wir könnten was spielen", schlug ich vor. Jonas rollte mit den Augen, aber nur kurz. „Was denn?" Gute Frage. Wann hatten wir das letzte Mal was zusammen gespielt? Ich meine, richtig gespielt, nicht diese Quick-Games auf dem Tablet.
Mia sprang auf: „Ich hol UNO!" Sie flitzte mit ihrer Taschenlampe los und kam mit dem zerfledderten Kartenspiel zurück. Die Schachtel war schon ganz eingedrückt, einige Karten hatten Eselsohren. Aber egal.
Wir spielten UNO bei Kerzenlicht. Und wisst ihr was? Es wurde richtig lustig. Jonas legte eine Vier-Ziehen-Karte auf Thomas, der theatralisch stöhnte. Mia kicherte jedes Mal, wenn sie „UNO!" rufen konnte. Ich schummelte ein bisschen – okay, ich schaute mir Mias Karten an, sie hielt sie sowieso so, dass jeder sie sehen konnte.
Nach drei Runden UNO – Mia gewann zweimal, was Jonas wurmte – holte Thomas seine Gitarre. Die stand schon ewig in der Ecke, mehr Deko als Instrument in letzter Zeit. Er stimmte sie kurz und fing an, ein paar Akkorde zu zupfen. Nichts Besonderes, nur so vor sich hin.
„Spiel was!", forderte Mia. Also spielte er „Wonderwall" – das einzige Lied, das wirklich jeder mit Gitarre irgendwann mal lernt. Jonas verdrehte die Augen: „Echt jetzt, Papa? Oasis?" Aber dann summte er die Melodie mit.
Ich musste an meine Studentenzeit denken. Da hatten wir öfter solche Abende. Irgendjemand hatte immer eine Gitarre dabei, wir saßen in irgendeiner WG-Küche, tranken billigen Wein und sangen schiefe Lieder. Damals fand ich das normal. Heute kommt es mir vor wie aus einem anderen Leben.
Psychologen haben übrigens mal untersucht, was gemeinsames Singen mit Menschen macht. Es synchronisiert den Herzschlag, schüttet Endorphine aus, stärkt das Gruppengefühl. In Island gibt es diese Tradition des „Kvöldvaka" – das bedeutet „Abendwachen". Die Familien saßen in den langen Winternächten zusammen, erzählten Geschichten, sangen, machten Handarbeiten. Ganz ohne Netflix. Stellt euch vor.
Thomas spielte noch ein paar Lieder. „Country Roads" – da sangen sogar die Kinder mit. „Let it Be" – das kannte Jonas aus dem Musikunterricht. Dann legte er die Gitarre weg, und wir saßen wieder in der Stille.
„Erzählt mal was", sagte Mia plötzlich. „Eine Geschichte." Sie kuschelte sich an mich. „Eine echte Geschichte, von früher."
Thomas und ich schauten uns an. Von früher? Was erzählt man seinen Kindern von früher? Von der Zeit, als wir uns kennengelernt haben? Als sie noch nicht da waren?
„Ich erzähl euch, wie Papa und ich uns kennengelernt haben", sagte ich schließlich. Jonas stöhnte gespielt auf, aber er rutschte näher. Die wollten das hören, auch wenn sie es nie zugeben würden.
Also erzählte ich. Vom Copyshop an der Uni, wo Thomas vor mir in der Schlange stand und sein Skript dreimal ausdrucken musste, weil er immer was vergessen hatte. Wie ich irgendwann laut gelacht habe und er sich umgedreht hat. Wie wir dann einen Kaffee trinken gegangen sind – in dieser schäbigen Cafeteria, wo der Kaffee nach nichts schmeckte, aber nur 50 Cent kostete.
„Ihr habt euch im Copyshop kennengelernt?", fragte Jonas ungläubig. „Das ist ja voll unromantisch!"
Thomas lachte. „Tja, Tinder gab's noch nicht." Jonas schaute verwirrt. Die Vorstellung, dass es mal eine Zeit ohne Dating-Apps gab, schien ihm absurd.
Dann erzählte Thomas von seinem Opa, der im Krieg Funker war. Wie der ihm mal gezeigt hatte, wie man Morsezeichen macht. Er klopfte SOS auf den Tisch. Dit-dit-dit, dah-dah-dah, dit-dit-dit. Die Kinder probierten es nach. Mia war begeistert von der Idee, dass man mit Klopfen reden kann.
Es ist schon interessant – Studien zeigen, dass Kinder, die regelmäßig Familiengeschichten hören, ein stärkeres Selbstbewusstsein entwickeln. Sie verstehen besser, wo sie herkommen, wer sie sind. Diese Narrative, sagen Psychologen, sind wie ein unsichtbares Netz, das uns hält. Wir erzählen uns selbst durch Geschichten, und unsere Kinder lernen durch diese Geschichten, wer sie sind.
Ich holte die alten Fotoalben raus. Die echten, nicht die digitalen. Die staubigen Dinger, die ganz oben im Schrank liegen. Bei Kerzenlicht blätterten wir durch. Da war Thomas mit Vokuhila – die Kinder kriegten sich nicht mehr ein. Ich mit dieser furchtbaren Dauerwelle Ende der Neunziger. Unsere Hochzeit. Jonas als Baby, rot und zerknautscht. Mias erster Tag im Kindergarten.
„Guck mal, da warst du noch süß", neckte Mia ihren großen Bruder und zeigte auf ein Bild, wo er, vielleicht drei Jahre alt, in einem Dinosaurier-Kostüm steckte. Jonas wurde rot, aber er lächelte.
Es ist merkwürdig, wie anders diese Fotos im Kerzenlicht aussahen. Weicher irgendwie. Als wären sie noch älter, noch kostbarer. Digital ist ja alles so verfügbar, so selbstverständlich. Diese alten Abzüge, die musste man noch zum Entwickeln bringen. Man musste warten. Man wusste nicht mal, ob sie was geworden sind.
Draußen heulte der Wind jetzt richtig. Ein Ast schlug gegen das Fenster, und Mia zuckte zusammen. „Keine Angst", sagte Jonas und legte den Arm um sie. „Ist nur der Wind." In diesem Moment war er der große Bruder, der Beschützer. Nicht der genervte Fast-Teenager, der sie sonst aus seinem Zimmer scheucht.
Thomas holte eine Decke und breitete sie über uns alle aus. Wir saßen da wie in einer Höhle aus Stoff und Kerzenlicht. Mia fing an zu erzählen, was sie heute in der Schule erlebt hatte. Normalerweise kriegt man da ja nur ein „War gut" raus. Aber jetzt, in dieser seltsamen Stromlos-Blase, sprudelte es aus ihr heraus. Von Lisa, die ihr Pausenbrot nicht dabei hatte. Vom Herrn Müller, der so komisch guckt, wenn er nachdenkt. Von der Spinne im Kunstunterricht, vor der alle Angst hatten, außer sie.
Jonas erzählte von seinem Physiklehrer, der immer die gleichen drei Witze macht. Thomas berichtete von dem neuen Kollegen, der seine Mails mit „Hochachtungsvoll" unterschreibt, als wäre es 1953. Ich erzählte von der Kundin heute, die unbedingt blaue Rosen wollte – ich arbeite halbtags im Blumenladen – und nicht verstehen wollte, dass es die in der Natur nicht gibt.
Wir redeten. Einfach so. Ohne parallel aufs Handy zu schauen. Ohne dass im Hintergrund der Fernseher lief. Es fühlte sich an wie... wie früher, nur dass es kein früher gab, das genau so war. Es war neu und alt gleichzeitig.
Anthropologen nennen das „Fireside Chat" – diese uralte menschliche Tradition, sich ums Feuer zu versammeln und zu erzählen. Es gibt Theorien, dass genau das uns zu Menschen gemacht hat. Diese Abende am Feuer, wo Wissen weitergegeben wurde, wo Bindungen gestärkt wurden, wo aus Individuen eine Gruppe wurde. In gewisser Weise saßen wir da in unserem Wohnzimmer und machten das, was Menschen seit Hunderttausenden von Jahren machen. Nur dass unsere Höhle ein Reihenhaus war und unser Feuer aus Wachskerzen bestand.
Irgendwann wurde Mia müde. Sie gähnte herzhaft und kuschelte sich noch enger an mich. „Können wir heute alle hier schlafen?", fragte sie. „Wie ein Campingabenteuer?"
Thomas und ich schauten uns an. Warum eigentlich nicht? Also holten wir Matratzen und Decken, bauten ein Lager im Wohnzimmer. Die Kinder fanden es großartig. Jonas holte sogar freiwillig sein Kissen aus seinem Zimmer – normalerweise ist sein Zimmer ja Sperrgebiet, heiliger Teenager-Boden.
Während wir das Nachtlager aufbauten, erzählte Thomas von den Stromausfällen seiner Kindheit. In den Achtzigern, da war das noch öfter. „Oma hatte immer diese Gaskocher", sagte er. „So einen kleinen Campingkocher. Damit hat sie dann Tee gemacht." Die Kinder hörten gebannt zu, als wäre das eine Geschichte aus der Steinzeit.
Es ist ja wirklich so: Wir haben uns so daran gewöhnt, dass alles immer funktioniert. Strom, Wasser, Internet – das ist so selbstverständlich wie Atmen. Erst wenn es fehlt, merken wir, wie abhängig wir geworden sind. Resilienzforscher sagen übrigens, dass solche kleinen Krisen – Stromausfälle, Autopannen, verpasste Züge – wichtig sind. Sie lehren uns Flexibilität, Anpassungsfähigkeit. Sie erinnern uns daran, dass nicht alles kontrollierbar ist.
Als wir alle in unserem Wohnzimmer-Camp lagen, die Kerzen fast runtergebrannt, wurde es richtig gemütlich. Man hörte den Wind, die Atemzüge der anderen, ab und zu ein Auto in der Ferne. Mia war schon fast eingeschlafen, murmelte aber noch: „Das machen wir wieder, oder?"
„Warten wir auf den nächsten Stromausfall", sagte Thomas trocken. Aber ich wusste, was er meinte. Das hier – dieses Zusammensein, diese Ruhe, diese echte Zeit miteinander – das sollten wir nicht erst wieder machen, wenn der Strom ausfällt.
Jonas, der sonst nie vor Mitternacht schläft, schnarchte leise. Im Kerzenlicht sah er wieder aus wie der kleine Junge, der er mal war. Der mit den Dino-Kostümen und den aufgeschlagenen Knien. Manchmal vergisst man das ja, im Alltagsstress, zwischen „Hast du deine Hausaufgaben gemacht?" und „Räum dein Zimmer auf!" – dass sie so schnell groß werden. Dass diese Momente, diese einfachen Momente zusammen, dass die das sind, woran sie sich erinnern werden.
Ich lag da und dachte nach. Über uns, über diese seltsame moderne Welt, in der wir leben. Wir haben alles – Smartphones, Smart-TVs, Smart-Homes. Aber sind wir auch smart im Umgang miteinander? Eine Studie der Universität Essex hat mal gezeigt, dass allein die Anwesenheit eines Smartphones auf dem Tisch die Qualität von Gesprächen mindert. Selbst wenn es ausgeschaltet ist. Es ist wie ein schwarzes Loch der Aufmerksamkeit, das immer ein bisschen von uns wegzieht.
Heute Abend gab es dieses schwarze Loch nicht. Es gab nur uns.
Gegen elf – ich weiß es, weil die Wanduhr schlug – ging plötzlich das Licht wieder an. Der Fernseher sprang an, irgendwo piepte was, der Kühlschrank brummte wieder los. Es war wie ein Zauber, der gebrochen wurde.
Thomas stand auf und machte erstmal alles wieder aus. „Lass uns noch ein bisschen so bleiben", sagte er leise. Ich nickte. Die Kinder schliefen tief und fest.
Wir löschten die letzten Kerzen und legten uns wieder hin. Im Dunkeln, zwischen unseren schlafenden Kindern, griff Thomas nach meiner Hand. „War schön", flüsterte er. „Ja", flüsterte ich zurück. „War es."
Am nächsten Morgen wachten wir alle mit Rückenschmerzen auf – so ein Wohnzimmerboden ist halt doch was anderes als eine Matratze. Jonas murrte über seinen steifen Nacken, Mia hatte Abdrücke vom Teppichmuster auf der Wange. Aber beim Frühstück – mit Strom, mit Kaffeemaschine, mit allem Pipapo – redeten sie immer noch vom Abend davor.
„Können wir das nochmal machen?", fragte Mia. „Also, ohne dass der Strom ausfällt?"
Jonas, der sonst alles uncool findet, was mit Familie zu tun hat, nickte. „War schon okay", sagte er. Für seine Verhältnisse war das eine Liebeserklärung.
Seitdem ist eine Woche vergangen. Der Alltag hat uns wieder. Jonas verschwindet nach der Schule in seinem Zimmer, Mia schaut ihre Serien, Thomas und ich jonglieren Arbeit und Haushalt. Aber gestern Abend, da hat Thomas einfach das WLAN ausgemacht. „Ups", sagte er und grinste. „Scheint kaputt zu sein."
Die Kinder haben sofort verstanden. Mia holte UNO, Jonas kam ohne Murren aus seinem Zimmer. Wir haben keine Kerzen angezündet – das wäre too much gewesen. Aber wir saßen zusammen, spielten Karten, redeten. Eine Stunde nur, dann war das WLAN auf wundersame Weise wieder „repariert". Aber diese Stunde, die war unsere.
Vielleicht ist das die Lektion aus diesem Stromausfall-Abend: Manchmal braucht es einen Schubs von außen, um innezuhalten. Um zu merken, was wir haben. Familie, Zeit, einander. In einer Welt, die immer schneller, immer vernetzter, immer mehr wird, ist das Weniger manchmal das Mehr.
Die Navajo haben übrigens ein Sprichwort: „In unserer Familie sind wir niemals allein, denn wir tragen die Geschichten unserer Ahnen in uns." An diesem Abend ohne Strom haben wir unsere eigenen Geschichten erzählt, neue geschaffen. Kleine, unspektakuläre Geschichten vielleicht. Aber unsere.
Ich weiß nicht, wann der nächste Stromausfall kommt. Die Stadtwerke haben übrigens eine Pressemitteilung rausgeschickt – ein Baum war tatsächlich auf eine Leitung gefallen. Höhere Gewalt, niemand schuld, kann passieren. Aber ehrlich gesagt, warten wir nicht mehr darauf. Wir machen jetzt öfter mal selbst den Strom aus. Metaphorisch gesprochen. Wir nehmen uns diese Zeit, diese analoge, echte Zeit.
Letztens hat Mia ihre Freundin eingeladen, und die war ganz erstaunt, dass wir „einfach so" zusammen Karten spielen. „Bei uns macht das keiner", hat sie gesagt. Da wurde mir klar: Was für uns durch Zufall zu einer kleinen Tradition geworden ist, ist für andere unvorstellbar. Dabei ist es so einfach. Man muss nur mal den Stecker ziehen. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Thomas hat übrigens einen ganzen Karton Kerzen gekauft. „Für alle Fälle", sagt er. Aber ich weiß, dass er hofft, sie bald zu brauchen. Nicht weil wieder der Strom ausfällt. Sondern weil wir uns entscheiden, das Licht auszumachen und unsere eigene kleine Insel zu schaffen. Eine Insel aus Kerzenlicht, Geschichten und Zeit. Einfach Zeit.
Gestern kam Jonas zu mir und meinte: „Mama, mein Kumpel Max findet das voll weird, dass wir manchmal das Internet ausmachen und zusammen spielen." Ich fragte ihn, was er denn dazu sagt. Er zuckte mit den Schultern. „Ich hab gesagt, er kann ja mal vorbeikommen." Pause. „Nächsten Freitag vielleicht?"
Da musste ich lächeln. Unser Fast-Teenager, der seine Familie normalerweise vor seinen Freunden versteckt wie ein peinliches Geheimnis, lädt einen Kumpel zu unserem Spieleabend ein. Wenn das kein Erfolg ist.
Ach ja, noch was: Vorgestern habe ich Frau Bergmann von gegenüber getroffen. „Wissen Sie", sagte sie, „seit diesem Stromausfall denke ich auch öfter daran, mal das Fernsehen auszulassen. War so friedlich an dem Abend." Dann hat sie ein bisschen verlegen gelacht. „Ist schon verrückt, dass man einen Stromausfall braucht, um zu merken, wie schön Stille sein kann."
Sie hat recht. Es ist verrückt. Aber vielleicht ist das Leben heute so: Wir brauchen manchmal das Dunkle, um das Licht zu sehen. Die Stille, um wieder hören zu können. Den Ausfall, um zu merken, was wirklich zählt.
Wenn ich so drüber nachdenke, war dieser Stromausfall vielleicht das Beste, was uns in diesem Jahr passiert ist. Nicht weil es so toll ist, im Dunkeln zu sitzen. Sondern weil es uns gezeigt hat, was wir im ganzen Alltagslärm übersehen: einander.
Manchmal, wenn ich abends die Kinder ins Bett bringe, denke ich an diesen Abend. An die Kerzen, die Schatten an der Wand, die Geschichten, das Lachen. Und dann denke ich: Wir sollten öfter den Strom ausmachen. Nicht den echten – obwohl, warum eigentlich nicht? Aber diesen anderen Strom, der uns ständig unter Spannung hält. Die Mails, die Nachrichten, die Updates, die Likes. All das, was uns glauben lässt, wir würden was verpassen, wenn wir nicht ständig online sind.
Dabei verpassen wir in Wahrheit was anderes: Das echte Leben. Das, was direkt vor uns sitzt. Die Menschen, die wir lieben. Die Geschichten, die nur wir erzählen können. Die Zeit, die wir nie zurückbekommen.
Heute ist wieder so ein ganz normaler Abend. Thomas arbeitet noch, Jonas macht Hausaufgaben (hoffentlich), Mia malt. Ich sitze hier am Küchentisch und schreibe das auf. Gleich mache ich Abendessen. Vielleicht Bolognese – die vom letzten Mal haben wir ja nie gegessen.
Und vielleicht, nur vielleicht, geht heute Abend wieder „zufällig" das WLAN aus. Mal schauen, was Thomas dazu sagt. Ich wette, er hat schon die Gitarre gestimmt.
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