
Gestern Abend saßen wir wieder hier am Küchentisch, Thomas scrollte durch sein Handy, und ich sortierte alte Kassenzettel aus meiner Handtasche. „Weißt du noch", sagte ich und hielt einen zerknitterten Zettel hoch, „der hier ist vom Buchladen in der Altstadt. Von dem Tag, als wir unseren paketefreien Monat angefangen haben." Thomas schaute auf und grinste. „Ach ja, deine verrückte Idee." Aber er sagte es liebevoll, so wie er immer „verrückt" sagt, wenn ich mal wieder einen unserer spontanen Familienexperimente starte.
Die Idee kam tatsächlich beim Frühstück. Es war ein ganz normaler Dienstagmorgen im Januar, draußen nieselte es, und der Paketbote klingelte zum dritten Mal in dieser Woche. Thomas holte das Paket – irgendwelche Küchenutensilien, die ich im Sale bestellt hatte. „Brauchen wir wirklich einen dritten Sparschäler?", fragte er, während er die Verpackung aufschnitt. Ich zuckte mit den Schultern. „War im Angebot." Und dann, keine Ahnung warum, platzte es aus mir heraus: „Was wäre, wenn wir einfach mal einen Monat lang nichts bestellen?"
Thomas verschluckte sich fast an seinem Kaffee. „Nichts? Gar nichts?" Ich nickte. „Komplett offline-Shopping-Pause. Wie früher." Die Kinder, die gerade ihre Schulbrote schmierten, horchten auf. „Auch keine Videospiele?", fragte Lukas skeptisch. „Vor allem keine Videospiele", sagte ich und merkte selbst, wie streng das klang. Marie, unsere Große, verdrehte die Augen. „Mama macht wieder einen ihrer Selbstversuche."
Aber es war mehr als das. In den letzten Monaten hatte sich bei uns eine seltsame Routine eingeschlichen. Fast täglich kamen Pakete, manchmal wussten wir gar nicht mehr, wer was bestellt hatte. Die Verpackungen stapelten sich in der Garage, und irgendwie fühlte sich alles so... automatisch an. Klick, bestellen, warten, auspacken, wegwerfen. Ein endloser Kreislauf.
Psychologen nennen das übrigens „Instant Gratification" – diese sofortige Belohnung, die unser Gehirn so liebt. Ich hatte mal einen Artikel darüber gelesen, während ich ironischerweise auf ein Paket wartete. Dopamin wird ausgeschüttet, nicht nur beim Auspacken, sondern schon beim Bestellen. Deshalb fühlt sich Online-Shopping so befriedigend an, selbst wenn wir die Sachen eigentlich gar nicht brauchen. Unser Steinzeithirn ist darauf programmiert, Ressourcen zu sammeln – früher Beeren und Nüsse, heute Küchengeräte und Bücher.
Die ersten Tage waren härter als gedacht. Am Mittwoch wollte Thomas neue Laufschuhe bestellen – seine alten hatten ein Loch. „Ich fahre am Samstag mit dir in die Stadt", versprach ich. Er brummelte etwas von Zeitverschwendung. Am Donnerstag brauchte Marie dringend ein bestimmtes Buch für die Schule. Normalerweise hätte ich es mit einem Klick bestellt, Express-Lieferung, Problem gelöst. Stattdessen rief ich in drei Buchhandlungen an. Die dritte hatte es vorrätig.
„Wir können es Ihnen zurücklegen", sagte die freundliche Stimme am Telefon. „Bis wann können Sie vorbeikommen?" Diese Frage hatte ich lange nicht mehr gehört. Online fragt niemand, wann du vorbeikommst. Da kommt alles zu dir.
Der Samstag wurde dann zu einem kleinen Abenteuer. Wir fuhren alle zusammen in die Stadt – sogar Lukas kam mit, nachdem wir ihm einen Besuch im Comicladen versprochen hatten. Die Innenstadt war voller als erwartet. „Schau mal, der alte Spielzeugladen existiert noch", rief Marie überrascht. Wir waren seit Monaten nicht mehr hier gewesen.
Im Schuhgeschäft erlebten wir dann etwas, was online unmöglich gewesen wäre. Thomas probierte die Laufschuhe an, und der Verkäufer – ein älterer Herr mit grauem Bart – schaute sich seinen Laufstil an. „Sie rollen leicht nach innen", sagte er. „Ich hätte da ein Modell mit besserer Pronationsstütze." Thomas war skeptisch, probierte sie aber an. Nach ein paar Schritten auf dem Laufband im Laden war er überzeugt. „Die sind ja wirklich besser."
Dieser Verkäufer, stellte sich heraus, war selbst Marathonläufer. Während Thomas verschiedene Modelle testete, erzählte er von seinen Läufen, gab Tipps für Dehnübungen. Am Ende hatten wir nicht nur Schuhe gekauft, sondern auch eine Einladung zum lokalen Lauftreff bekommen. „Jeden Mittwoch um 18 Uhr am Stadtpark", sagte er. Thomas geht seitdem tatsächlich hin.
Interessanterweise zeigen Studien, dass solche persönlichen Interaktionen beim Einkaufen unser Sozialkapital stärken. Das klingt jetzt hochtrabend, aber es bedeutet einfach: Wir bauen Beziehungen auf, auch kleine, flüchtige. Der Buchhändler, der unsere Lesevorlieben kennt. Die Bäckerin, die weiß, dass Marie keine Rosinen mag. Diese Mini-Verbindungen geben uns das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein.
Nach zwei Wochen bemerkte ich etwas Seltsames. Die Nachmittage fühlten sich länger an. Nicht langweiliger – länger. Ohne die ständige Erwartung von Paketen, ohne das „Oh, heute kommt ja meine Bestellung", hatte der Tag einen anderen Rhythmus. Wir saßen öfter zusammen im Wohnzimmer, ohne dass jemand nebenbei auf Schnäppchenjagd war.
Einmal, es war ein verregneter Dienstag, sagte Lukas: „Mir ist langweilig." Früher hätte ich vielleicht gesagt: „Such dir was im Internet." Diesmal kramte ich die alte Spielesammlung vom Dachboden. Mensch ärgere dich nicht, Mühle, Dame. „Das ist ja voll retro", sagte er, aber er setzte sich dazu. Wir spielten drei Runden, und beim Abendessen erzählte er Thomas begeistert von seiner Siegesserie.
Die Sache mit dem bewussten Verzicht hat übrigens eine lange Tradition. In vielen Kulturen gibt es Fastenzeiten – nicht nur beim Essen. Die Idee dahinter ist immer ähnlich: Durch temporären Verzicht schärfen wir unseren Blick für das Wesentliche. Im Buddhismus nennt man das „Nicht-Anhaften", im Minimalismus spricht man von „intentional living". Klingt alles sehr philosophisch, aber im Grunde geht es darum, aus dem Autopilot-Modus rauszukommen.
Wir merkten das besonders bei den Kindern. Ohne die Option „Mama bestellt das schnell" mussten sie kreativer werden. Marie lieh sich Bücher von Freundinnen, tauschte Klamotten. Lukas reparierte sein kaputtes Skateboard selbst, mit Hilfe von YouTube-Tutorials und Werkzeug aus dem Keller. „Schau mal, funktioniert wieder", sagte er stolz und zeigte uns das notdürftig geflickte Board.
Nach drei Wochen kam der große Test. Maries Geburtstag stand an, und sie wünschte sich eine bestimmte Kamera. Normalerweise hätte ich die online bestellt, Preise verglichen, Rezensionen gelesen. Stattdessen fuhren wir zu drei Elektronikgeschäften. Im zweiten trafen wir einen jungen Verkäufer, selbst Hobbyfotograf. Er nahm sich eine halbe Stunde Zeit, erklärte Marie die verschiedenen Funktionen, ließ sie ausprobieren. Am Ende entschied sie sich für ein anderes Modell als geplant – eines, das besser zu dem passte, was sie wirklich machen wollte.
„Online hätte ich die falsche gekauft", gab sie später zu. Der Verkäufer hatte ihr auch gleich von einem Fotografie-Workshop für Jugendliche erzählt, der im Kulturzentrum stattfindet. Sie geht jetzt jeden Donnerstag hin und hat dort neue Freunde gefunden.
Was mich überrascht hat: Wir haben in diesem Monat nicht wirklich gespart. Die Sachen in den Läden kosteten oft mehr als online. Aber wir haben weniger gekauft. Viel weniger. Ohne die ständigen Verlockungen, ohne die „Kunden, die das kauften, kauften auch"-Vorschläge, ohne die künstliche Verknappung („Nur noch 3 auf Lager!") kauften wir nur, was wir wirklich brauchten oder wollten.
Thomas hat das mal nachgerechnet – er liebt solche Zahlenspiele. Normalerweise kamen bei uns etwa 25 bis 30 Pakete im Monat an. In unserem Offline-Monat haben wir insgesamt zwölf Mal etwas gekauft. Dabei waren wir öfter unterwegs, haben mehr unternommen. Der Unterschied? Wir kauften bewusster.
Die Verhaltensökonomie kennt dafür den Begriff „Cooling-off Period" – eine Abkühlphase zwischen Wunsch und Kauf. Online ist diese Phase minimal, oft nur die Sekunden zwischen Warenkorb und Bezahlung. Im echten Leben dauert sie länger. Du musst zum Laden fahren, Zeit investieren. Oft verfliegt der Kaufimpuls unterwegs.
Eines Abends, es war schon Ende des Monats, saßen wir beim Abendessen, und Thomas sagte: „Wisst ihr was? Ich vermisse die Pakete gar nicht." Marie nickte. „Ich auch nicht. Außer..." Sie grinste. „Außer die Luftpolsterfolie zum Platzen lassen." Wir lachten alle.
Aber es gab auch schwierige Momente. Als unsere Kaffeemaschine kaputtging, wurde es kompliziert. Das Ersatzteil gab es nur online. Wir diskutierten lange – ist das jetzt eine Ausnahme? Ein Notfall? Am Ende einigten wir uns darauf, erst mal mit der French Press weiterzumachen und das Ersatzteil nach unserem Experiment-Monat zu bestellen. Die French Press haben wir übrigens immer noch. Die Kaffeemaschine steht repariert im Schrank.
Gegen Ende des Monats machten wir eine Liste. Was haben wir vermisst? Was nicht? Die Überraschung: Vieles, von dem wir dachten, es sei unverzichtbar, war es gar nicht. Die Bequemlichkeit? Ja, manchmal. Aber die ständige Verfügbarkeit von allem? Nicht wirklich.
Forscher haben herausgefunden, dass unser Gehirn sich erstaunlich schnell an neue Gewohnheiten anpasst. Nach etwa 21 Tagen beginnen neue Routinen, sich normal anzufühlen. Bei uns dauerte es ungefähr so lange, bis wir aufhörten, automatisch zum Handy zu greifen, wenn uns etwas einfiel, was wir „mal eben bestellen" könnten.
Stattdessen fingen wir an, eine Liste zu führen. Eine echte, handgeschriebene Liste am Kühlschrank. „Brauchen" und „Wollen" stand darüber, zwei Spalten. Einmal pro Woche schauten wir sie uns an. Vieles hatte sich bis dahin erledigt oder erschien uns nicht mehr wichtig.
Am letzten Tag unseres Experiments, es war ein Sonntag, machten wir einen Spaziergang. Ohne konkretes Ziel, einfach durch die Nachbarschaft. „Guckt mal", sagte Lukas und zeigte auf ein Haus. „Da stapeln sich die Pakete vor der Tür." Früher hätten wir das gar nicht bemerkt. Oder es wäre normal gewesen. Jetzt wirkte es seltsam.
Marie fotografierte an diesem Tag viel mit ihrer neuen Kamera. Kleine Details, die ihr auffielen. Ein verrostetes Fahrrad, Katzen auf einer Mauer, das Schaufenster vom alten Hutladen. „Wenn man zu Fuß unterwegs ist, sieht man mehr", sagte sie. Eine simple Erkenntnis, aber wahr.
Am Abend saßen wir wieder am Küchentisch. Die Frage stand im Raum: Und jetzt? Zurück zum alten Leben? Thomas war der Erste, der sprach. „Ich will nicht wieder jeden Tag Pakete annehmen", sagte er. „Aber ab und zu online bestellen... das ist schon praktisch."
Wir einigten uns auf einen Kompromiss. Einmal pro Woche Sammelbestellung, wenn nötig. Vorher auf die Liste schauen, eine Nacht drüber schlafen. Und: einmal im Monat einen gemeinsamen Stadtbummel, ganz altmodisch.
Das ist jetzt drei Monate her. Die Regeln haben wir ein bisschen gelockert, klar. Aber etwas ist geblieben. Wir kaufen bewusster. Wir fragen uns öfter: Brauchen wir das wirklich? Oder ist es nur die Dopamin-Jagd?
Letzte Woche kam ein Paket für Marie. Sie hatte sich nach langem Überlegen eine spezielle Linse für ihre Kamera bestellt, gebraucht von einem kleinen Fotoladen. „Die hatten auch eine tolle Beratung am Telefon", erzählte sie. Der Laden ist zwei Städte weiter, aber der Inhaber hat angeboten, dass sie vorbeikommen kann, wenn sie Fragen hat.
Lukas hat neulich sein Taschengeld gespart und ist mit Thomas zum Comicladen gefahren. „Der Verkäufer hat mir drei neue Serien empfohlen", erzählte er begeistert. „Und er hat gesagt, ich kann die ersten Bände anlesen und zurückbringen, wenn sie mir nicht gefallen." Das würde Amazon nie anbieten.
Ich selbst erwische mich manchmal noch dabei, wie ich gedankenverloren durch Online-Shops scrolle. Alter Gewohnheit stirbt langsam. Aber öfter schließe ich die App und überlege: Was könnte ich stattdessen machen? Oft gehe ich dann in die Küche und backe was. Oder ich setze mich hierher, an unseren Küchentisch, und schreibe.
Die Wissenschaft sagt übrigens, dass gemeinsame Erfahrungen uns glücklicher machen als Besitz. Erlebnisse speichern wir anders ab, sie werden Teil unserer Identität. Die Laufschuhe, die Thomas mit dem marathonlaufenden Verkäufer ausgesucht hat, sind nicht nur Schuhe. Sie sind die Geschichte von diesem Samstag, von dem Lauftreff, von neuen Bekanntschaften.
Neulich haben wir alte Fotos angeschaut – richtige Fotos, aus der Zeit vor den Smartphones. „Wisst ihr noch, dieser Urlaub?", fragte ich und hielt ein Bild hoch. Wir waren wandern, irgendwo in den Bergen. Keine Ahnung mehr, welches Jahr. Aber ich weiß noch genau, wie sich die Sonne an diesem Tag anfühlte, wie müde die Kinder waren, wie wir am Gipfel Würstchen gegrillt haben.
Von den hunderten Paketen, die in den letzten Jahren ankamen, erinnere ich mich an fast nichts. An was war nochmal in dem großen Karton vom letzten November? Keine Ahnung. Aber an den Samstag in der Stadt, als wir alle zusammen loszogen, an den Verkäufer mit dem grauen Bart, an Maries Begeisterung im Kameraladen – daran erinnere ich mich.
Es geht nicht darum, Online-Shopping zu verteufeln. Es ist praktisch, oft günstiger, manchmal die einzige Option. Aber es geht darum, die Balance zu finden. Zwischen Bequemlichkeit und Bewusstsein. Zwischen Haben und Sein, wie Erich Fromm das mal genannt hat.
Gestern kam wieder ein Paketbote. Ein einzelnes Paket, Schulbücher für Lukas. Der Fahrer kannte uns noch von früher. „Lange nicht gesehen", sagte er und grinste. „Waren Sie im Urlaub?" – „So ähnlich", antwortete Thomas. „Wir waren einen Monat offline." Der Paketbote schaute verwirrt. „Komplett offline? Wie haben Sie das denn überlebt?"
Wir haben uns angeschaut und gelacht. Überlebt? Wir haben gelebt. Anders als vorher, bewusster vielleicht. Mit mehr Zeit füreinander, mehr kleinen Abenteuern, mehr echten Begegnungen.
Heute Morgen beim Frühstück scrollte Thomas durch sein Handy. „Hier, Winterjacken im Sale", sagte er und hielt mir das Display hin. Ich schaute kurz drauf. „Brauchst du eine?" Er überlegte. „Eigentlich nicht." Dann legte er das Handy weg und schenkte sich noch einen Kaffee ein. Aus der French Press.
Die Liste am Kühlschrank ist übrigens immer noch da. In der „Brauchen"-Spalte steht gerade: neue Glühbirnen fürs Bad, Hefe, Geburtstagskarte für Oma. In der „Wollen"-Spalte: das neue Buch von meinem Lieblingsautor, Bluetooth-Kopfhörer für Thomas, irgendwas mit Einhörnern für Marie (durchgestrichen und wieder draufgeschrieben, typisch Teenager).
Wir werden nicht alles davon kaufen. Manches verschwindet von selbst von der Liste, anderes wandert irgendwann in die „Brauchen"-Spalte. Und wenn wir was kaufen, überlegen wir oft: online oder offline? Manchmal ist die Antwort klar. Manchmal machen wir daraus einen kleinen Ausflug.
Es ist nicht perfekt. Nichts ist perfekt. Aber es fühlt sich richtiger an als vorher. Weniger automatisch, mehr bewusst. Weniger Pakete, mehr Päckchen voller Erinnerungen. Und das, finde ich, ist ein ganz guter Tausch.