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Wohnen & Alltagstipps

Der Abend, als Netflix nicht ging – und was dann passierte

by Winterberg 2025. 8. 13.

Der Abend, als Netflix uns im Stich ließ (und warum das vielleicht das Beste war, was uns passieren konnte)

Letzten Freitag saß ich mit Stefan auf dem Sofa, die Füße hochgelegt, Weinglas in der Hand – unser übliches Freitagsritual. Die Woche war wieder mal zu lang gewesen, ihr kennt das ja. Diese Art von Woche, wo jeder Tag sich anfühlt wie zwei. Stefan hatte die Fernbedienung schon in der Hand, wollte gerade unsere Serie weiterschauen. Diese eine mit den Anwälten, wo ständig jemand jemanden betrügt und man nach drei Staffeln immer noch nicht weiß, wer jetzt der Böse ist.

Aber der Bildschirm blieb schwarz. Also, nicht ganz schwarz – diese rotierenden Kreise waren da, die einem sagen wollen: „Gleich geht's los, nur noch einen Moment." Nach fünf Minuten rotierender Geduld wurde Stefan unruhig. Er schüttelte die Fernbedienung. Heftig. Als ob das je geholfen hätte, aber es ist so sein Ding.

„Internet ist da", sagte ich und schaute auf mein Handy. „Vielleicht liegt's an Netflix?"

Tatsächlich. Später erfuhren wir, dass halb Europa betroffen war. Eine massive Störung, irgendwas mit den Servern. Stellt euch vor – Millionen Menschen, die am Freitagabend nicht wussten, was sie mit sich anfangen sollten. Die Apokalypse der Streaming-Generation.

Stefan stand auf, seine Knie knackten dabei. „Was machen wir jetzt?", fragte er, und ich schwöre, er klang ein bisschen verloren. Wie ein Kind, dem man gerade gesagt hat, dass der Spielplatz geschlossen ist.

Wir saßen einen Moment da, zwei Mittdreißiger, die nicht wussten, was sie an einem Freitagabend ohne Fernseher machen sollten. Ist das nicht verrückt? Die Wissenschaft hat übrigens einen Namen dafür: „Behavioral Addiction" – Verhaltenssucht. Nicht so schlimm wie eine Drogensucht, klar, aber das Prinzip ist ähnlich. Unser Gehirn gewöhnt sich an die Dopamin-Ausschüttung, die wir beim Serienschauen bekommen. Diese kleinen Glücksmomente, wenn ein Cliffhanger aufgelöst wird oder unsere Lieblingsfigur endlich das bekommt, was sie verdient.

Eine Studie der University of Toledo hat 2019 herausgefunden, dass der durchschnittliche Amerikaner 3,5 Stunden am Tag fernsieht. Bei uns Deutschen sind es „nur" 3,3 Stunden. Macht im Jahr über 1.200 Stunden. Das sind 50 komplette Tage! Fünfzig Tage, in denen wir das Leben anderer Menschen anschauen statt unser eigenes zu leben.

Aber zurück zu unserem Freitagabend. Nach der ersten Schockstarre haben wir angefangen, die Teller vom Abendessen wegzuräumen. Normalerweise bleiben die stehen, bis die erste Folge vorbei ist. Manchmal auch bis nach der zweiten. Oder, wenn ich ehrlich bin, manchmal auch bis zum nächsten Morgen.

Stefan spülte, ich trocknete ab. Dabei fiel mir auf, wie still es war. Kein dramatischer Soundtrack im Hintergrund, keine übertriebenen Dialoge. Nur das Klirren von Geschirr und Stefans leises Summen. Er summte diesen einen Song, der letzte Woche im Radio lief. „Dancing in the Moonlight" oder so ähnlich. Total ohrwurm-tauglich.

„Weißt du noch", sagte er plötzlich, „früher bei meinen Eltern, da haben wir sonntags immer Spiele gespielt."

Das wusste ich tatsächlich nicht. Nach acht Jahren Beziehung erfährt man immer noch neue Sachen. Er erzählte von Monopoly-Marathons, bei denen sein kleiner Bruder immer geschummelt hat. Geldscheine unterm Brett versteckt, mit gezinkten Würfeln gespielt. „Einmal hat er die Schlossallee geklaut und behauptet, die wäre schon immer weg gewesen."

Bei mir war das anders. Wir hatten einen Fernseher und der lief eigentlich immer. Das war in den 90ern noch anders als heute – da gab's nachmittags diese Talkshows, abends Krimis, und wir Kinder haben nach der Schule Zeichentrickserien geschaut. Interessanterweise zeigen Studien, dass Kinder aus Haushalten mit viel TV-Konsum später selbst mehr fernsehen. Die Medienpädagogen nennen das „intergenerationale Transmission von Mediennutzungsmustern". Klingt kompliziert, bedeutet aber nur: Wir machen's wie unsere Eltern.

Nach dem Abwasch waren wir erstmal ratlos. Stefan kramte in der Schublade rum – ihr wisst schon, diese eine Schublade, die jeder hat, wo alles drin liegt, was keinen richtigen Platz hat. Alte Batterien, Kugelschreiber die nicht mehr schreiben, Bedienungsanleitungen für Geräte, die man längst nicht mehr besitzt.

„Ha!", rief er triumphierend und hielt ein Kartenspiel hoch. Noch in Folie eingeschweißt. Wir mussten beide lachen. Das hatten wir vor drei Jahren im Kroatien-Urlaub gekauft. Für die Abende, hatte es geheißen. Benutzt hatten wir es nie.

Das Problem: Keiner von uns wusste mehr, wie man Rommé spielt. Oder war es Canasta? Die Anleitung war natürlich weg. Also erfanden wir unsere eigenen Regeln. Völliger Quatsch wahrscheinlich, aber es funktionierte. Stefan behauptete, Herz-Dame gibt Extrapunkte. Warum? „Weil sie die Königin der Herzen ist." Die Logik erschloss sich mir nicht, aber okay.

Was dabei interessant war: Wir redeten. Richtig redeten. Nicht dieses Nebenbei-Kommentieren beim Fernsehen („Guck mal, die Schauspielerin war doch auch in..."), sondern echte Gespräche. Über seine Überlegung, sich ein Rennrad zu kaufen. Obwohl sein altes Fahrrad seit zwei Jahren unbenutzt im Keller steht. „Das ist was anderes", behauptete er. „Ein Rennrad ist sportlicher."

Psychologen sprechen von „Quality Time" – dieser bewusst gemeinsam verbrachten Zeit ohne Ablenkung. Der Begriff kommt ursprünglich aus der Erziehungspsychologie der 1970er Jahre, als Forscher feststellten, dass nicht die Quantität, sondern die Qualität der gemeinsamen Zeit entscheidend für die Bindung ist. Das gilt nicht nur für Eltern-Kind-Beziehungen, sondern auch für Paare.

Eine Langzeitstudie der University of Virginia mit 3.000 Paaren hat gezeigt: Paare, die regelmäßig bewusst Zeit ohne Medien miteinander verbringen, haben eine um 40% geringere Scheidungsrate. Nicht weil Fernsehen an sich schlecht wäre, sondern weil die gemeinsame Aktivität ohne Ablenkung die Bindung stärkt.

Irgendwann holte Stefan Wein. Den guten, den seine Schwester uns zu Weihnachten geschenkt hatte. „Ist doch ein besonderer Anlass", meinte er. „Unser erster bildschirmfreier Abend seit Jahren."

Das war natürlich übertrieben. Beim Zelten letzten Sommer hatten wir auch keinen Fernseher. Aber ich wusste, was er meinte. Zu Hause, in unserem normalen Alltag, ohne diese elektronische Nabelschnur zur Außenwelt – das war tatsächlich selten geworden.

Nach dem dritten Glas Wein – oder war es das vierte? – kamen wir auf das Thema Kinder. Keine Ahnung wie. Vom Kartenspiel zu Kindern, interessante Gedankensprünge. Stefan meinte, er wäre „theoretisch" bereit. Dieses Wort benutzt er immer, wenn er eigentlich unsicher ist. Theoretisch bereit, praktisch verängstigt.

Die Geburtenrate in Deutschland liegt übrigens bei 1,54 Kindern pro Frau. Das Durchschnittsalter bei der ersten Geburt ist auf 31 Jahre gestiegen. Wir liegen also voll im Trend mit unserem Zögern. Die Gründe sind vielfältig: finanzielle Unsicherheit, Karriereplanung, die Angst vor Verantwortung. Und natürlich die Angst vor dem Verlust der Zweisamkeit. Studien zeigen, dass die Beziehungszufriedenheit im ersten Jahr nach der Geburt um durchschnittlich 40% sinkt. Kein Wunder, dass man da zögert.

Um halb elf beschlossen wir, Pfannkuchen zu machen. Ja, mitten in der Nacht. Verrückt, ich weiß. Aber wir hatten Lust auf was Süßes, und Stefan macht wirklich gute Pfannkuchen. Sein Geheimnis: Ein Schuss Mineralwasser im Teig. Macht sie fluffiger, sagt er. Die Wissenschaft gibt ihm recht – das CO2 im Mineralwasser bildet kleine Bläschen, die den Teig auflockern.

Während er rührte und dabei die halbe Küche vollmehlte, machte ich Musik an. Über die kleine Bluetooth-Box, die seit Ewigkeiten in der Schublade lag. Alte Songs, von früher. Diese Musik, die einen sofort zurückversetzt. Das Phänomen nennt sich „Music-evoked autobiographical memories" – musikinduzierte autobiografische Erinnerungen. Bestimmte Songs aktivieren den medialen präfrontalen Kortex, wo unsere persönlichen Erinnerungen gespeichert sind.

Bei "Your Body Is a Wonderland" von John Mayer musste ich lachen. Der lief, als Stefan mich das erste Mal küsste. Im Auto, vor meiner alten WG. Total kitschig. Wir saßen da, beide wussten, was gleich passieren würde, keiner traute sich. Dann dieser schnulzige Song, wir mussten beide lachen, und er küsste mich mitten im Lachen.

Die Pfannkuchen verbrannten halb, weil wir anfingen zu tanzen. In der Küche, barfuß, ich mit dem Pfannenwender in der Hand. Studien zeigen übrigens, dass gemeinsames Tanzen Oxytocin freisetzt – das Bindungshormon. Es synchronisiert nicht nur unsere Bewegungen, sondern auch unsere Herzschläge und Atmung. Kein Wunder, dass Tanzen in fast allen Kulturen eine Rolle bei der Partnerwahl spielt.

In vielen Kulturen ist das gemeinsame Essen und die Zeit danach übrigens heilig. In Italien gibt es die „Passeggiata" – den abendlichen Spaziergang, bei dem man Nachbarn trifft und plaudert. In Spanien die „Sobremesa" – das Zusammensitzen nach dem Essen, ohne Eile, ohne Plan. In Dänemark „Hygge" – diese gemütliche Zusammengehörigkeit. Wir Deutschen haben dafür kein richtiges Wort. „Gemütlichkeit" trifft es nicht ganz. Vielleicht weil wir zu sehr damit beschäftigt sind, effizient zu sein.

Beim Essen der halb verbrannten Pfannkuchen – mit viel zu viel Nutella als Tarnung – redeten wir über den Abend. Wie schnell die Zeit vergangen war. Es war nach Mitternacht. Normalerweise wären wir längst im Bett oder auf dem Sofa eingeschlafen, mit laufendem Fernseher.

Stefan sagte dann etwas, das hängenblieb: „Wir schauen uns das Leben anderer Leute an, statt unser eigenes zu leben."

Das klingt erstmal nach Kalenderspruch, aber da ist was dran. Der Medientheoretiker Neil Postman warnte schon 1985 in „Wir amüsieren uns zu Tode" davor, dass wir zu passiven Konsumenten werden. Dass wir echte Erfahrungen durch medienvermittelte ersetzen. Damals ging es um's Fernsehen, heute wäre es wohl noch krasser mit Netflix, YouTube, Social Media.

Interessant ist: In Ländern mit weniger Medienkonsum sind die Menschen nicht unglücklicher. Im Gegenteil. Bhutan zum Beispiel, wo Fernsehen erst 1999 eingeführt wurde, hatte vorher konstant hohe Glückswerte. Nach der Einführung des Fernsehens stiegen Kriminalität und Unzufriedenheit messbar an. Korrelation ist nicht gleich Kausalität, klar, aber es gibt zu denken.

Am nächsten Tag ging Netflix wieder. Stefan testete es morgens als Erstes, noch vor dem Kaffee. „Falls du dich wunderst", meinte er grinsend. Als hätte ich nicht gesehen, wie er mit der Fernbedienung hantierte.

Abends schauten wir tatsächlich wieder fern. Eine Folge. Aber danach machten wir aus. Ohne Diskussion. Setzten uns nochmal an den Küchentisch, mit Tee diesmal. Redeten über den Tag, über nichts Besonderes. Stefan erzählte von einem Podcast über römische Geschichte, den er auf dem Arbeitsweg gehört hatte.

Die Sache mit dem bewussten Medienkonsum ist übrigens gar nicht so schwer. Medienpädagogen empfehlen die „Wenn-Dann-Regel": Wenn ich fernsehen will, dann entscheide ich vorher, was und wie lange. Kein zielloses Zappen, kein „nur noch eine Folge". Studien zeigen, dass Menschen mit bewusstem Medienkonsum nicht weniger, aber zufriedener fernsehen.

Es gibt auch interessante kulturelle Unterschiede: In Skandinavien gibt es „Bildschirmfreie Woche" in vielen Schulen. In Silicon Valley schicken Tech-Millionäre ihre Kinder auf Waldorf-Schulen ohne Bildschirme. Steve Jobs erlaubte seinen Kindern kein iPad. Die Dealer konsumieren ihre eigene Droge nicht, könnte man sagen.

Was mir dieser Abend gezeigt hat: Es geht nicht darum, Fernsehen zu verteufeln. Es geht um Balance. Um bewusste Entscheidungen. Wollen wir jetzt wirklich die dritte Folge schauen oder lieber reden? Brauchen wir die Ablenkung oder suchen wir nur Gewohnheit?

Der Philosoph Byung-Chul Han schreibt in „Müdigkeitsgesellschaft" über unsere Unfähigkeit zur Langeweile. Wir füllen jede Lücke mit Unterhaltung, jede Stille mit Geräuschen. Dabei entsteht Kreativität oft genau in diesen Lücken. In der Langeweile, im Nichtstun.

Kinder langweilen sich heute kaum noch. Immer gibt es ein Programm, eine App, eine Ablenkung. Dabei zeigen Studien: Kinder, die sich langweilen dürfen, entwickeln mehr Kreativität, bessere Problemlösungsfähigkeiten, mehr Selbstständigkeit. Die Langeweile zwingt sie, selbst aktiv zu werden statt passiv zu konsumieren.

Bei Erwachsenen ist es nicht anders. Diese ständige Berieselung verhindert, dass wir zur Ruhe kommen, dass wir nachdenken, dass wir verarbeiten. Der Default Mode Network unseres Gehirns – das Ruhezustandsnetzwerk – braucht diese Pausen, um Erlebnisse zu verarbeiten, Verbindungen herzustellen, kreativ zu sein.

Heute, eine Woche später, haben wir einen neuen Rhythmus gefunden. Nicht rigide, nicht mit Regeln. Aber bewusster. Manchmal schauen wir fern, manchmal nicht. Gestern haben wir wieder Karten gespielt. Mit den immer noch absurden Regeln. Stefan hat wieder geschummelt. Ich hab's gesehen, nichts gesagt. Manche Dinge ändern sich nie.

Das Thema Kinder schwebt übrigens immer noch im Raum. Aber es fühlt sich weniger bedrohlich an. Wenn wir einen Abend ohne Netflix überleben, schaffen wir vielleicht auch schlaflose Nächte. Irgendwann. Theoretisch. Oder sogar praktisch.

Was bleibt von diesem Abend? Die Erkenntnis, dass wir uns selbst genug sein können. Dass unsere eigene Geschichte mindestens so spannend ist wie jede Serie. Man muss nur mal den Bildschirm ausmachen, um das zu merken.

Und die verbrannten Pfannkuchen? Die waren übrigens trotzdem lecker. Mit genug Nutella schmeckt alles. Noch so eine wichtige Lebenserkenntnis an diesem Abend ohne Fernseher.