
Vorhin stand ich im Keller und hab gezählt. Vierzehn Säcke Blumenerde. Vierzehn! Thomas behauptet, das wäre normal. "Wir sind vorbereitet", sagt er. Vorbereitet worauf? Die Erdapokalypse?
Angefangen hat das vor etwa fünf Jahren, als wir den Balkon neu gestalten wollten. Damals dachten wir noch, wir würden zu diesen Menschen werden, bei denen alles grünt und blüht. Du weißt schon – diese Instagram-Balkone mit Tomatenstauden, die aussehen wie aus der Toskana, und Kräutergärten, bei denen sogar der Basilikum überlebt.
Die erste Fahrt zum Baumarkt war im März. Dieser typische Frühlingsmärz, wo die Sonne scheint und man denkt: Jetzt! Jetzt wird alles anders! Thomas hatte eine Liste gemacht. Mit Excel. Farbcodiert. "Strukturiertes Vorgehen", nannte er das. Erde stand ganz oben.
Im Baumarkt dann die Überforderung. Hast du mal gezählt, wie viele verschiedene Erdsorten es gibt? Bei unserem Baumarkt sind es 23. Ich hab nachgezählt. Da steht man dann wie der sprichwörtliche Ochs vorm Berg. Universalerde, Pflanzerde, Blumenerde, Anzuchterde, Kübelpflanzenerde... Und dann noch die ganzen Spezialerden. Rhododendronerde mit niedrigem pH-Wert. Orchideenerde, die eigentlich gar keine Erde ist, sondern Rindenstücke. Kakteenerde mit extra Sand.
Die Preisunterschiede sind auch der Wahnsinn. Von 1,99 Euro beim Discounter bis 18 Euro für Bio-Premium-Schwarzerde mit Urgesteinsmehl und effektiven Mikroorganismen. Ich musste das googeln – effektive Mikroorganismen sind wohl Bakterien und Pilze, die den Boden verbessern sollen. Entwickelt von einem japanischen Agrarwissenschaftler in den 80ern. Klingt wichtig. Ob's was bringt? Die Meinungen gehen auseinander.
Thomas stand vor dem Regal und hat die Inhaltsstoffe studiert. "Hochmoortorf", las er vor. "Weißt du, dass Moore nur ein Prozent der Erdoberfläche ausmachen, aber doppelt so viel CO2 speichern wie alle Wälder zusammen?" Ich wusste es nicht. Jetzt weiß ich's. Und dass für Blumenerde Moore zerstört werden. Ein Quadratmeter Moor speichert in 15 Zentimetern Torf so viel Kohlenstoff wie ein hundertjähriger Wald auf derselben Fläche.
"Dann nehmen wir torffreie", sagte ich. Die Auswahl schrumpfte auf fünf Sorten. Immer noch zu viel Auswahl für zwei Menschen, die eigentlich nur ein paar Tomaten pflanzen wollen.
Am Ende nahmen wir die mit der grünen Verpackung. Mittelpreissegment, torffrei, "für alle Pflanzen geeignet" stand drauf. Drei Säcke. "Reicht locker", meinte Thomas.
Reichte nicht. Eine Woche später waren wir wieder da. Die Balkonkästen waren gefüllt, aber wir hatten spontan noch Töpfe gekauft. Große Töpfe. "Die sehen so leer aus", hatte ich gesagt. Also wieder Erde kaufen. Diesmal fünf Säcke. Vorsichtshalber.
Die Sache mit der Erde ist ja die: Man unterschätzt immer, wie viel man braucht. Ein 40-Liter-Sack klingt nach viel. Ist es aber nicht. Ein großer Topf mit 50 Zentimeter Durchmesser braucht etwa 65 Liter Erde. Das hat Thomas ausgerechnet. Mit einer Formel. π mal r² mal h oder so. Ich hab nicht richtig zugehört.
Was ich gehört hab: Dass Deutsche im Schnitt 18 Liter Blumenerde pro Jahr kaufen. Pro Person! Das sind bei 83 Millionen Einwohnern... moment, ich rechne... 1,5 Milliarden Liter. Jedes Jahr. Das ist ein Würfel mit 145 Meter Kantenlänge. Stell dir das mal vor. Ein Erdwürfel, höher als der Kölner Dom.
Bei uns ist es deutlich mehr als 18 Liter pro Person. Eher 180. Mindestens. Und das Verrückte: Wir benutzen nicht mal alles. Die Säcke sammeln sich im Keller wie... wie alte Zeitschriften, die man aufhebt, weil da mal was Interessantes drin stehen könnte.
Letztes Jahr im April – ich weiß es noch genau, weil's der Tag vor Ostern war – sagte Thomas: "Wir müssen Erde kaufen." Ich: "Haben wir nicht noch welche im Keller?" Er: "Glaub nicht." Also los zum Baumarkt. An der Kasse dann sein Gesichtsausdruck, als er in der Garage die Säcke vom letzten Jahr sah. Vier Stück, ungeöffnet.
"Die können wir doch zurückgeben", schlug ich vor. Thomas guckte mich an, als hätte ich vorgeschlagen, die Katze zu verkaufen. "Das macht man nicht", sagte er. Macht man das wirklich nicht? Ich hab keine Ahnung von den ungeschriebenen Gesetzen der Baumarkt-Rückgaben.
Dabei ist das mit der Haltbarkeit von Erde so eine Sache. Theoretisch wird Erde nicht schlecht. Sie ist ja schon... nun ja, Erde. Millionen Jahre alt. Praktisch aber verändert sie sich. Die Struktur bricht zusammen, sagen Experten. Die Nährstoffe oxidieren. Nach zwei Jahren ist gekaufte Erde nur noch Füllmaterial.
Das hat mir mal ein Gärtner erklärt, als ich Erde von 2019 verwenden wollte. "Können Sie machen", sagte er. "Wächst auch was drin. Nur nicht gut." Seine Pflanzen sahen aus wie aus einem Katalog. Unsere... sagen wir, sie haben Charakter.
Die Lagerung ist auch wichtig. Trocken soll's sein. Dunkel. Kühl. Unser Keller ist feucht, hell durch das Fenster und im Sommer warm wie eine Sauna. Also genau falsch. Trotzdem stapeln sich da die Säcke. Manche aufgeplatzt, manche verschimmelt, manche okay. Es ist wie Lotto.
Thomas hat mal vorgeschlagen, ein Erdlager-Management-System einzuführen. "First in, first out", sagte er. "Wie im Supermarkt." Ich hab gelacht. Er war ernst. Er hat sogar angefangen, Kaufdatum auf die Säcke zu schreiben. Mit Edding. Das hat er genau zweimal gemacht.
Die Wahrheit ist: Wir haben ein emotionales Verhältnis zu Erde entwickelt. Klingt verrückt? Ist es vielleicht auch. Aber dieser Geruch, wenn man einen neuen Sack öffnet... Thomas sagt, das ist wie der Duft von neuen Büchern. Nur erdiger.
Es gibt übrigens tatsächlich Studien dazu. Der Geruch von Erde aktiviert dieselben Hirnregionen wie... warte, ich hab's irgendwo gelesen... wie Schokolade. Dopamin wird ausgeschüttet. Wir werden buchstäblich süchtig nach dem Geruch von Erde. "Petrichor" heißt das, wenn's nach Regen riecht. Aber frische Blumenerde hat auch so einen speziellen Duft.
In dem Duft sind übrigens Geosmin-Moleküle. Die werden von Bodenbakterien produziert. Der Mensch kann Geosmin in winzigsten Konzentrationen wahrnehmen – fünf Parts per Trillion. Das ist, als würde man einen Teelöffel in 200 Olympia-Schwimmbecken kippen und es noch riechen.
Evolutionär macht das Sinn. Unsere Vorfahren mussten fruchtbaren Boden erkennen können. Wer den besten Boden fand, überlebte. Jetzt stehen wir im Baumarkt und schnuppern an Plastiksäcken. Evolution at its finest.
Meine Schwester macht sich immer lustig über unsere Erdsammlung. "Ihr könntet einen Erdhandel aufmachen", sagt sie. Dabei hat sie selbst 20 Paar Schuhe. Aber das ist natürlich was anderes. Schuhe sind wichtig. Erde ist... Erde.
Wobei, wenn man's genau nimmt, ist Erde wichtiger als Schuhe. Ohne Erde keine Pflanzen. Ohne Pflanzen kein Sauerstoff. Ohne Sauerstoff... du verstehst. Wir sichern quasi das Überleben der Menschheit. Mit vierzehn Säcken Blumenerde im Keller.
Die verschiedenen Erdsorten in unserem Keller erzählen übrigens unsere Gartengeschichte. Der Sack Orchideenerde von 2020 – das war, als ich dachte, ich könnte Orchideen am Leben erhalten. Spoiler: Kann ich nicht. Die Orchidee hat genau drei Wochen überlebt. Die Erde liegt noch da.
Der Sack Anzuchterde von 2021 – Thomas' Versuch, Tomaten aus Samen zu ziehen. "Das ist viel billiger als Pflanzen kaufen", hatte er gesagt. Hat er sogar ausgerechnet. 2,50 Euro für 100 Samen versus 3 Euro pro Pflanze. Was er nicht eingerechnet hat: die Heizmatte (25 Euro), die Anzuchttöpfe (15 Euro), die Pflanzenlampe (45 Euro). Und die Zeit. Oh Gott, die Zeit.
Er hat diese Samen gehegt wie Babys. Jeden Morgen gecheckt. Gegossen mit der Sprühflasche. Umgetopft. Pikiert – ich musste das Wort googeln. Bedeutet vereinzeln. Von 100 Samen sind 10 gekeimt. Von 10 Keimlingen haben 3 überlebt. Von 3 Pflanzen hat eine Tomaten getragen. Zwei Stück. Die teuersten Tomaten der Welt.
Die Kakteenerde war meine Idee. "Kakteen sind pflegeleicht", hatte ich gelesen. "Ideal für Anfänger." Ich kaufte drei Kakteen und den Spezialsand. Die Kakteen sind eingegangen. Ja, ich habe es geschafft, Kakteen umzubringen. Zu viel gegossen, sagt Thomas. Ich sage, sie waren depressiv.
Dann ist da noch die Premium-Bio-Erde für 15 Euro. Die hab ich mal gekauft, als ich einen Artikel über Mikroplastik in billiger Erde gelesen hatte. Überall Mikroplastik! In der Erde, im Gemüse, in uns. Die teure Erde sollte plastikfrei sein. War sie vielleicht auch. Die Pflanzen sind trotzdem eingegangen.
Die Wissenschaft sagt übrigens, dass der Erfolg beim Gärtnern nur zu 20 Prozent von der Erde abhängt. Der Rest ist Licht, Wasser, Temperatur und... Glück. Oder Können. Wir haben offenbar weder das eine noch das andere.
Trotzdem kaufen wir weiter Erde. Es ist wie ein Ritual. Frühling kommt, wir fahren zum Baumarkt, wir kaufen Erde. Wie unsere Vorfahren, die zum Frühlingsfest gingen. Nur dass unser Frühlingsfest im Baumarkt stattfindet und unser Opfer der Kontostand ist.
Letztes Jahr hab ich mal mitgeschrieben, was wir ausgegeben haben. Nur für Erde. 73 Euro. Für Pflanzen, die dann eingegangen sind: 126 Euro. Für Töpfe und Zubehör: 89 Euro. Ertrag: Vier Tomaten, eine Handvoll Erdbeeren, Basilikum für einmal Caprese. Return on Investment: katastrophal.
"Es geht nicht ums Geld", sagt Thomas dann. "Es geht ums Prinzip." Welches Prinzip? "Das Prinzip des... des Versuchens." Aha.
Mein Vater hatte übrigens einen Garten. Einen richtigen. Mit Gemüsebeeten und Obstbäumen. Er hat nie Erde gekauft. "Erde kaufen?", hat er mal gesagt, als ich ihm von unseren Einkäufen erzählt hab. "Das ist wie Luft in Tüten verkaufen." Dann hat er gelacht. Sein Gemüse war übrigens spektakulär. Tomaten groß wie Tennisbälle. Gurken, die man mit beiden Händen halten musste.
Sein Geheimnis? Kompost. Und Pferdemist vom Reiterhof nebenan. "Das ist Gold", hat er gesagt. "Schwarzes Gold." Wir haben keinen Kompost. Und Pferdemist... wo soll ich in der Stadt Pferdemist herbekommen? Obwohl, es gibt tatsächlich einen Reitverein zwei Kilometer entfernt...
Nein. Nein, ich werde nicht zu der Person, die Pferdemist durch die Stadt transportiert. Ich habe Standards. Niedrige Standards, aber Standards.
Die Nachbarn haben übrigens auch alle Erde im Keller. Das hab ich beim letzten Kellerfest gesehen. Bei Familie Schmidt: mindestens zehn Säcke. Bei den Müllers: ein ganzes Regal voll. Wir sind nicht allein. Wir sind eine Gemeinschaft von Erdhortern.
Vielleicht sollten wir eine Tauschbörse gründen. "Biete Orchideenerde, suche Tomatenerde." Oder eine Erd-WG. Jeder bringt seine Erde mit, wir mischen alles zusammen, fertig ist die Universalerde.
Thomas meint, das sei Quatsch. "Verschiedene Pflanzen brauchen verschiedene Erde", sagt er. Sagt der Mann, der letztes Jahr Kakteen in Blumenerde gepflanzt hat. Die sind übrigens auch eingegangen. Aber das war bestimmt nicht die Schuld der Erde.
Neulich hab ich einen Podcast gehört. Über Urban Gardening. Da hat eine Expertin gesagt, dass 90 Prozent aller Hobbygärtner zu viel Erde kaufen. Die anderen 10 Prozent sind wohl die, die wissen, was sie tun. Wir gehören definitiv zu den 90 Prozent.
Sie hat auch gesagt, dass man Erde wiederverwenden kann. Einfach mit Kompost auffrischen. Oder mit Hornspänen. Wir haben das mal versucht. Die alte Erde aus den Töpfen mit neuer gemischt. Das Ergebnis sah aus wie... wie alte Erde mit ein bisschen neuer Erde. Die Pflanzen fanden's mittelprächtig.
Das Problem ist auch: Im Frühjahr ist man motiviert. Da will man alles bepflanzen. Jeden Topf, jede Ecke. Man sieht schon den üppigen Balkondschungel vor sich. Also kauft man Erde. Viel Erde. Für all die Pflanzen, die man pflanzen will.
Dann pflanzt man die Hälfte. Die andere Hälfte... "machen wir nächstes Wochenende". Nächstes Wochenende regnet es. Übernächstes ist was anderes. Und plötzlich ist Juli, und die Erde liegt immer noch da.
"Für nächstes Jahr", sagen wir dann. Als ob Erde wie Wein wäre. Als ob sie mit dem Alter besser würde. Wird sie nicht. Sie wird nur älter. Und staubiger.
Gestern hat Thomas vorgeschlagen, wir sollten die alte Erde wegwerfen. Einfach so. Radikal. "Wir fangen neu an", hat er gesagt. "Tabula rasa." Ich hab ihn angeschaut. "Vierzehn Säcke?" "Vierzehn Säcke."
Wir haben's nicht gemacht. Natürlich nicht. Das wäre ja wie Geld wegwerfen. Wie aufgeben. Wie zugeben, dass wir ein Problem haben.
Haben wir ein Problem? Ich meine, es ist nur Erde. Es ist nicht so, dass wir nachts heimlich zum Baumarkt fahren. Es ist nicht so, dass wir uns verschulden für Premium-Substrate. Es ist nur... viel. Sehr viel Erde für zwei Menschen mit einem Balkon und mittelmäßigem gärtnerischen Talent.
Aber weißt du was? Es macht uns glücklich. Dieser Moment im Frühjahr, wenn wir die erste Tüte öffnen. Dieser Erdgeruch. Diese Möglichkeiten. Dieses "Diesmal wird alles anders". Es wird nicht anders. Aber für diesen Moment glauben wir dran.
Und das ist vielleicht genug. Diese kleine Hoffnung, verpackt in grünen Plastiksäcken. Diese Illusion, dass wir nur die richtige Erde bräuchten, um zu Gärtnern zu werden. Diese jährliche Selbsttäuschung, die uns durch den Winter bringt.
Nächstes Jahr kaufen wir weniger. Das haben wir uns fest vorgenommen. Maximal drei Säcke. Oder fünf. Höchstens sieben. Und nur, wenn sie im Angebot sind.
Aber das ist nächstes Jahr. Dieses Jahr haben wir genug Erde. Mehr als genug. Vierzehn Säcke voll Potential. Vierzehn Säcke voll Hoffnung.
Vierzehn Säcke, die wahrscheinlich auch nächstes Jahr noch da liegen werden.
Aber das ist okay. Es ist unsere Erde. Unser Keller. Unsere kleine Verrücktheit. Und irgendwie, auf eine verschrobene Art, macht es uns zu dem, was wir sind: ewige Optimisten mit zu viel Erde im Keller.
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