
Der Joghurt-Vorfall im Bus
Letzte Woche Dienstag. Ich war auf dem Heimweg, saß im Bus, Linie 4, so gegen halb fünf nachmittags. Einer dieser Tage, an denen man eigentlich nur noch nach Hause will. Ich hatte eingekauft, eine große Stofftasche neben mir auf dem Sitz, voll mit allem Möglichen. Brot, Obst, ein paar Konserven, und ganz unten – natürlich ganz unten – der große Joghurtbecher. Ein Kilo. Erdbeer. Der mit dem roten Deckel.
Ich weiß noch, dass ich gedacht habe: Hoffentlich drückt nichts drauf. Aber ich hab nicht weiter drüber nachgedacht. Die Tasche stand ja nur da, niemand hat sie angefasst. Was sollte schon passieren?
Der Bus war voll. Nicht gerammelt voll, aber gut besetzt. Vor mir saß eine ältere Dame mit Rollator, neben mir stand ein junger Mann mit Kopfhörern, und mir gegenüber eine Frau, vielleicht Anfang vierzig, im schicken Businesskostüm. Die hatte so eine Aura von „ich komme gerade aus einem wichtigen Meeting". Strahlend weiße Bluse. Perfekt geschminkt.
An der dritten Haltestelle ist der Bus dann ziemlich heftig gebremst. Nichts Dramatisches, aber so ein typisches Stadtbus-Manöver. Alle schwanken kurz, meine Tasche rutscht ein Stück – und dann höre ich es. Dieses Geräusch. Ein leises Knacken. Und dann ein... Tropfen. Nein, kein Tropfen. Mehrere Tropfen.
Ich schaue runter. Aus meiner Tasche läuft etwas Rosafarbenes. Langsam, aber stetig. Auf den Boden. Auf den Sitz. Und – oh Gott – in Richtung der Frau mir gegenüber.
Sie hat es auch bemerkt. Hat ihren Blick von ihrem Smartphone gehoben, auf ihre Schuhe geschaut, und dann zu mir. Keine Panik, keine Wut. Nur diese eine hochgezogene Augenbraue. Diese Mischung aus Überraschung und leichter Genervtheit, die sagt: „Ernsthaft jetzt?"
Ich wollte im Boden versinken. Sofort. Am liebsten wäre ich an Ort und Stelle verdampft. „Oh mein Gott, es tut mir so leid", hab ich gestammelt und gleichzeitig versucht, die Tasche hochzuheben. Was natürlich alles nur schlimmer gemacht hat, weil jetzt erst recht Joghurt rausgelaufen ist. Rosa Erdbeerjoghurt, überall.
Die Frau hat ihre Schuhe wegbewegt – schwarze Lederpumps, die sahen teuer aus – und gemeint: „Passiert." Aber ihr Tonfall hat klar gesagt: „Aber bitte nicht mir."
Ich hab verzweifelt in meiner Handtasche nach Taschentüchern gesucht. Natürlich hatte ich genau drei dabei. Drei! Als ob das was bringen würde bei einem Liter Joghurt. Oder wie viel da jetzt genau ausgelaufen war, keine Ahnung. Zu viel jedenfalls.
Der junge Mann neben mir hat seine Kopfhörer rausgenommen und gefragt: „Brauchst du Hilfe?" Das war nett, aber was sollte er tun? Den Joghurt auflecken? Ich hab nur den Kopf geschüttelt und versucht, mit meinen drei Taschentüchern irgendwie das Gröbste wegzuwischen. Der Boden war rutschig, der Sitz hatte einen großen rosafarbenen Fleck, und ich war kurz davor, in Tränen auszubrechen. Nicht weil es so schlimm war, sondern weil es einfach so... peinlich war.
An der nächsten Haltestelle bin ich aufgestanden, hab dem Busfahrer Bescheid gesagt. Er ist kurz nach hinten gekommen, hat sich das angeschaut und nur gemeint: „Ach, passiert ständig. Mach dir keinen Kopf." Dann hat er mir einen Putzlappen gegeben – einen alten, etwas muffigen Putzlappen, der wahrscheinlich schon hundert solcher Unfälle mitgemacht hat – und ich hab versucht, das Schlimmste wegzumachen.
Die Businessfrau ist an der Haltestelle ausgestiegen. Ohne ein weiteres Wort. Ihre Schuhe waren zum Glück sauber geblieben, aber ich hab mich trotzdem furchtbar gefühlt.
Als ich endlich zu Hause war, hab ich die Tasche in die Ecke gestellt und erst mal tief durchgeatmet. Markus kam gerade aus dem Arbeitszimmer, sah mich an und fragte: „Was ist passiert?" Ich hab ihm die Geschichte erzählt, und er hat – natürlich – gelacht. Nicht gemein, aber so, wie man über etwas lacht, das absurd und gleichzeitig total nachvollziehbar ist.
„Joghurt im Bus", hat er gesagt. „Das hätte mir auch passieren können." Aber dann meinte er noch: „Warte mal, wenn du jetzt echt was kaputt gemacht hast – zum Beispiel die Kleidung von dieser Frau – hättest du dann zahlen müssen?"
Gute Frage. Keine Ahnung hatte ich. Also hab ich, wie so oft in letzter Zeit, den Laptop aufgeklappt und gegoogelt. „Haftung Bus etwas verschüttet", „Joghurt im Bus wer zahlt", „Schaden öffentlicher Verkehr Haftung" – so in der Art.
Die Ergebnisse waren... naja, nicht so eindeutig, wie ich gehofft hatte. Aber im Grunde kam es darauf hinaus: Ja, theoretisch kann man haftbar gemacht werden, wenn man im Bus oder in anderen öffentlichen Verkehrsmitteln etwas verschüttet und dadurch Schaden entsteht. Das fällt unter die allgemeine Schadenersatzpflicht. Wenn ich durch meine Unachtsamkeit – oder juristisch ausgedrückt: durch Fahrlässigkeit – fremdes Eigentum beschädige, muss ich dafür aufkommen.
Das kann Kleidung sein. Die Sitze im Bus. Der Boden. Sogar andere Taschen oder Gegenstände von Mitfahrenden. Wenn der Joghurt also auf die weiße Bluse der Businessfrau getropft wäre und die nicht mehr sauber geworden wäre, hätte sie theoretisch von mir verlangen können, dass ich für die Reinigung oder im schlimmsten Fall für eine neue Bluse aufkomme.
Genauso hätte das Verkehrsunternehmen von mir verlangen können, die Reinigung des Busses zu bezahlen. Oder den Sitz, falls der nicht mehr sauber zu kriegen gewesen wäre. Das kommt zwar selten vor, aber es ist rechtlich möglich.
Was mich beruhigt hat: Es muss nachweisbar sein, dass ich fahrlässig gehandelt habe. Das bedeutet: Ich hätte etwas tun können oder müssen, um den Schaden zu verhindern, und hab es nicht getan. In meinem Fall – war ich fahrlässig? Schwer zu sagen. Ich hatte den Joghurt in die Tasche gepackt, wie man das eben macht. Ich hatte ihn nicht extra gesichert, das stimmt. Aber ich hatte auch nicht damit gerechnet, dass der Deckel aufgeht.
Markus meinte, das sei eine Grauzone. „Im Zweifel musst du beweisen, dass du nicht fahrlässig warst. Oder die andere Seite muss beweisen, dass du es warst. Kommt drauf an." Er studiert zwar nichts mit Jura, aber er liest gern über solche Dinge. Manchmal ist das ganz praktisch.
Was ich auch rausgefunden habe: Die Privathaftpflichtversicherung würde in so einem Fall normalerweise greifen. Das ist ja genau der Sinn dieser Versicherung – dass sie für Schäden aufkommt, die man versehentlich anderen zufügt. Wir haben so eine Versicherung. Ich hab dann tatsächlich in den Unterlagen nachgeschaut, und ja, da stand es: „Schäden an fremdem Eigentum durch Unachtsamkeit" sind abgedeckt.
Das war beruhigend. Nicht weil ich vorhatte, jetzt ständig Joghurt in Bussen zu verschütten, sondern einfach, weil es ein gutes Gefühl ist zu wissen: Falls wirklich mal was Schlimmes passiert, bin ich nicht komplett aufgeschmissen.
Interessant fand ich auch, dass die rechtliche Situation davon abhängt, wie der Schaden entstanden ist. Wenn zum Beispiel der Bus so heftig bremst, dass allen Leuten die Taschen vom Sitz fliegen, und dabei geht was kaputt – dann kann man dem Verkehrsunternehmen unter Umständen eine Mitschuld nachweisen. Weil die ja für die sichere Fahrt verantwortlich sind. Aber in meinem Fall war die Bremsung nicht außergewöhnlich. Das war normaler Stadtverkehr. Also wäre ich wohl voll verantwortlich gewesen.
Am Abend haben Markus und ich dann weiter darüber gesprochen. Er meinte, das Problem sei, dass man im Alltag ständig irgendwelche Risiken eingeht, ohne sich dessen bewusst zu sein. Jedes Mal, wenn man mit Flüssigkeiten unterwegs ist – Kaffee zum Mitnehmen, Wasserflaschen, eben Joghurt – besteht die Gefahr, dass was ausläuft.
„Und trotzdem machen wir es", hab ich gesagt. „Weil wir nicht anders können. Wir können ja nicht aufhören, Dinge zu transportieren."
„Stimmt. Aber wir können vorsichtiger sein."
Und da hatte er recht. Ich hätte den Joghurt in eine extra Tüte packen können. Oder in eine Box mit Deckel. Oder zumindest oben in die Tasche, nicht ganz unten unter allem anderen Zeug. Es gibt Möglichkeiten, Risiken zu minimieren. Man muss nur dran denken.
Seit dem Vorfall hab ich ein bisschen mein Verhalten geändert. Klingt vielleicht übertrieben, aber ich achte jetzt mehr darauf, wie ich Dinge einpacke. Joghurt kommt in eine separate Box. Flaschen stelle ich aufrecht, nicht liegend. Und wenn ich Kaffee zum Mitnehmen dabei habe, achte ich darauf, dass der Deckel wirklich fest drauf ist.
Sind das kleine, banale Dinge? Ja. Machen sie einen Unterschied? Auch ja. Zumindest für mein eigenes Sicherheitsgefühl. Und vielleicht verhindern sie ja auch den nächsten peinlichen Bus-Moment.
Was mich auch beschäftigt hat, war die Reaktion der anderen Fahrgäste. Die meisten haben es gar nicht mitbekommen. Die haben auf ihr Handy geschaut oder aus dem Fenster oder einfach vor sich hin gedöst. Der junge Mann neben mir war hilfsbereit. Die Businessfrau war... naja, nicht begeistert, aber auch nicht aggressiv. Der Busfahrer war entspannt.
Niemand hat geschrien. Niemand hat mich beschimpft. Niemand hat verlangt, dass ich sofort zahle. Es war einfach ein Unfall. Peinlich, unangenehm, aber menschlich.
Und ich glaube, das ist das Wichtige daran. Solche Dinge passieren. Jeden Tag, überall. Jemandem fällt was runter, jemand verschüttet was, jemand stößt gegen jemanden. Das ist Teil des Zusammenlebens in einer Stadt, in öffentlichen Verkehrsmitteln, im Alltag.
Natürlich gibt es Grenzen. Wenn jemand absichtlich etwas kaputt macht oder völlig rücksichtslos ist, ist das was anderes. Aber wenn es ein Versehen ist, ein Unfall – dann sollte man, finde ich, mit einem gewissen Maß an Verständnis reagieren. So, wie die meisten Menschen im Bus es getan haben.
Markus hat dann irgendwann gemeint, das erinnere ihn an eine Geschichte von seiner Mutter. Die hat mal in der U-Bahn eine ganze Thermoskanne mit Tee umgeschüttet. Über ihren eigenen Mantel, über ihre Tasche, auf den Boden. Sie war total verzweifelt, aber eine ältere Dame neben ihr hat nur gelacht und gesagt: „Ach Gottchen, das geht raus. Und wenn nicht, war's ein guter Mantel und hatte ein gutes Leben."
Diese Gelassenheit. Die hätte ich gerne. Ich bin da meistens eher die, die sich stundenlang Sorgen macht und sich im Kopf alle möglichen Katastrophen ausmalt. Aber vielleicht ist das auch eine Frage der Übung. Je öfter man merkt, dass die Welt nicht untergeht, wenn mal was schiefgeht, desto entspannter wird man.
Ein paar Tage nach dem Vorfall hab ich die Businessfrau tatsächlich nochmal gesehen. Im gleichen Bus, zur gleichen Zeit. Sie hat mich nicht erkannt, glaube ich. Oder sie hat so getan, als würde sie mich nicht erkennen. Ich hab überlegt, sie anzusprechen und mich nochmal zu entschuldigen, aber dann hab ich es gelassen. Was hätte das gebracht? Der Moment war vorbei, niemand war zu Schaden gekommen, und sie wirkte nicht so, als würde sie nachts wach liegen und an den Joghurt-Vorfall denken.
Ich hingegen hab tatsächlich ein paar Nächte dran gedacht. Nicht schlaflos, aber so, dass es mir immer mal wieder durch den Kopf gegangen ist. Diese Mischung aus Peinlichkeit und dem Gedanken: Was wäre, wenn? Was wäre, wenn der Joghurt auf ihre Bluse getropft wäre? Was wäre, wenn sie mich verklagt hätte? Was wäre, wenn das Verkehrsunternehmen eine Rechnung geschickt hätte?
Aber nichts davon ist passiert. Und wahrscheinlich passiert so was auch meistens nicht. Die meisten Menschen sind vernünftig. Die meisten Unfälle bleiben Unfälle und werden nicht zu rechtlichen Auseinandersetzungen.
Was ich auch spannend fand, war die Frage nach der kulturellen Komponente. Wie würde so eine Situation in anderen Ländern ablaufen? In Japan zum Beispiel, wo öffentliche Ordnung und Sauberkeit so einen hohen Stellenwert haben? Oder in den USA, wo Leute schneller mal verklagen?
Ich hab keine Ahnung, ehrlich gesagt. Aber ich könnte mir vorstellen, dass es überall ähnlich ist. Menschen sind Menschen. Unfälle sind Unfälle. Und die meisten Leute haben Besseres zu tun, als wegen verschüttetem Joghurt eine große Sache draus zu machen.
Trotzdem bleibt die rechtliche Seite interessant. Weil sie zeigt, dass wir eben doch eine Verantwortung haben. Auch im Kleinen. Auch im Alltag. Wenn ich etwas transportiere, bin ich dafür verantwortlich, dass es sicher verstaut ist. Wenn mir ein Fehler passiert, muss ich die Konsequenzen tragen. Das ist fair, wenn man drüber nachdenkt.
Gleichzeitig finde ich es wichtig, dass es Versicherungen gibt, die solche Fälle abdecken. Weil eben nicht jeder hunderte Euro übrig hat, um für eine ruinierte Bluse oder einen beschädigten Bussitz aufzukommen. Die Haftpflichtversicherung ist da ein Sicherheitsnetz. Und ich bin froh, dass wir eine haben.
Markus hat irgendwann gescherzt, wir sollten eine Checkliste für Busfahrten erstellen. „Punkt eins: Joghurt in Box. Punkt zwei: Deckel überprüfen. Punkt drei: Nicht neben Leute in weißen Blusen setzen." Ich hab gelacht, aber irgendwie hatte er nicht ganz unrecht. Ein bisschen Vorbereitung schadet nie.
Heute, ein paar Wochen später, fahre ich immer noch mit dem Bus. Linie 4, oft zur gleichen Zeit. Ich kaufe immer noch Joghurt, auch die großen Becher. Aber ich packe sie anders ein. In eine kleine Plastikbox mit Schnappverschluss, die ich extra dafür gekauft habe. Die steht jetzt in meiner Küche, neben den Einkaufstaschen, und erinnert mich daran: Manchmal reicht eine kleine Vorsichtsmaßnahme, um Katastrophen zu verhindern.
Und wenn ich im Bus sitze und jemanden sehe, der eine große Einkaufstasche dabei hat, aus der irgendwas Verdächtiges tropft, dann denke ich: Arme Seele. Ich weiß, wie du dich fühlst. Aber es geht vorbei. Und beim nächsten Mal packst du's besser ein.
Das Leben ist voller kleiner Lektionen. Manche lernt man aus Büchern, manche aus Erfahrung. Und manche lernt man aus einem Kilo Erdbeerjoghurt, der sich im Bus über den Boden ergießt. Es sind nicht immer die großen Momente, die uns was beibringen. Manchmal sind es die kleinen, peinlichen, allzu menschlichen Momente, die uns daran erinnern: Sei achtsam. Sei vorsichtig. Und hab immer mehr als drei Taschentücher dabei.