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Wohnen & Alltagstipps

Die Schublade des Grauens

by Winterberg 2025. 8. 12.

Letzte Woche saß ich mit meiner Freundin zusammen – du kennst sie, die Sarah aus dem Yogakurs – und wir kamen irgendwie auf das Thema Ordnung. Sie erzählte von ihrer Küche, wie sie gerade alles ausgemistet hat, Marie Kondo und so. Ich musste innerlich grinsen. Bei uns zu Hause gibt es nämlich diese eine Schublade. Du weißt schon, DIE Schublade. Jeder hat sie, oder?

Bei uns ist es die dritte von oben, rechts neben der Spüle. Tom nennt sie "das Bermudadreieck der Küche" – was reingeht, kommt nie wieder raus. Oder zumindest nicht ohne Kampf.

Vorgestern wollte ich eigentlich nur den Flaschenöffner. Wirklich, mehr nicht. Stattdessen zog ich erstmal zwei Korkenzieher raus (warum haben wir zwei?), einen Stapel Pizzaflyer von Läden, die es teilweise gar nicht mehr gibt, und – das war der Höhepunkt – einen einzelnen Schnürsenkel. Schwarz. Keine Ahnung, wie der da reingekommen ist.

"Schatz", rief ich zu Tom rüber, der gerade im Wohnzimmer seine ewige Sportschau guckte. "Wir müssen was machen."

Er kam in die Küche geschlurft, sah die offene Schublade, sah mich an. "Jetzt? Es ist Samstagnachmittag."

Aber ich kannte diesen Blick. Er wusste, dass ich recht hatte. Diese Schublade war wie ein schlechtes Gewissen in Holzform. Jedes Mal, wenn wir sie öffneten, dachten wir beide: Eigentlich müsste man mal... Aber dann siegte der Alltag. Oder die Bequemlichkeit. Meistens beides.

Die Psychologin Gretchen Rubin hat mal geschrieben, dass Unordnung unterschwellig Stress verursacht. Selbst wenn wir sie nicht bewusst wahrnehmen, nagt sie an uns. Das erklärt vielleicht, warum ich jedes Mal leicht aggressiv wurde, wenn ich in dieser Schublade wühlen musste. Tom meinte mal, ich würde dabei aussehen wie ein wütender Waschbär. Charmant, oder?

Aber zurück zu vorgestern. Wir haben dann tatsächlich angefangen. Nicht geplant, nicht vorbereitet, einfach angefangen. Tom holte eine große Schüssel und wir kippten den kompletten Inhalt der Schublade rein. Der Lärm war... beeindruckend. Unser Nachbar von oben hat geklopft. "Alles okay bei euch?" Mussten wir verneinen. Nichts war okay. Wir hatten gerade Pandoras Schublade geöffnet.

Was da alles zum Vorschein kam! Es war wie eine archäologische Ausgrabung unserer letzten fünf Jahre. Da waren Visitenkarten von Handwerkern, die wir nie angerufen haben. Eine Bedienungsanleitung für einen Milchaufschäumer, den wir nie besessen haben – ich schwöre! Zahnstocher in rauen Mengen, obwohl keiner von uns Zahnstocher benutzt. Und dann, ganz unten, fand Tom es: ein Foto.

Es zeigte uns beide beim Stadtfest vor vier Jahren. Wir hatten gerade diese riesigen Zuckerwattedinger gekauft und sahen aus wie Fünfjährige auf einem Kindergeburtstag. Tom hatte damals noch seinen schrecklichen Schnurrbart – er nannte ihn seinen "Tom Selleck Look", aber ehrlich, er sah eher aus wie ein missglücktes Physikexperiment.

"Oh Gott, der Schnurrbart", lachte ich.

"Hey, der war Statement", verteidigte er sich, musste aber selbst grinsen.

Wir setzten uns an den Küchentisch, das Foto zwischen uns. Komisch, wie so ein kleines Stück Papier einen zurückversetzen kann. Ich erinnerte mich genau an den Tag. Es war unser erster gemeinsamer Sommer in dieser Wohnung. Alles war noch neu, aufregend. Wir hatten große Pläne. Die Wände wollten wir streichen (haben wir bis heute nicht), einen Kräutergarten auf dem Balkon anlegen (die vertrockneten Reste stehen noch da) und jeden Sonntagmorgen zusammen frühstücken (klappt... manchmal).

Tom holte zwei Bier aus dem Kühlschrank. "Wenn wir schon in Erinnerungen schwelgen", meinte er.

Es gibt diese Theorie in der Verhaltenspsychologie, dass Paare, die gemeinsam aufräumen, eine stärkere Bindung entwickeln. Klingt erstmal seltsam, aber wenn man drüber nachdenkt... Man teilt die nervige Arbeit, man lacht über gemeinsame Erinnerungen, man einigt sich auf Kompromisse. All das schweißt zusammen. Oder man streitet sich darüber, ob man die Garantiekarte vom Föhn noch braucht (braucht man nicht, sagt Tom; braucht man doch, sage ich – der Föhn ist erst zwei Jahre alt!).

Wir teilten die Sachen in drei Haufen auf: behalten, wegwerfen, "keine Ahnung". Der dritte Haufen war mit Abstand der größte. Da lagen Dinge, bei denen wir uns einfach nicht einigen konnten. Ein kaputter Radiergummi? "Der funktioniert noch", behauptete Tom. Ein Teelicht-Halter ohne Teelicht? "Den können wir noch brauchen", insistierte ich.

Es ist verrückt, wie sehr wir an Dingen hängen. Die Anthropologin Mary Douglas hat mal untersucht, warum Menschen Gegenstände horten. Oft geht es gar nicht um den Gegenstand selbst, sondern um das, was er repräsentiert. Eine Möglichkeit, eine Erinnerung, ein "Was wäre wenn". Der kaputte Radiergummi ist nicht nur ein Radiergummi – er ist die Möglichkeit, mal wieder was mit der Hand zu schreiben. Das einzelne Teelicht ist der romantische Abend, den wir irgendwann mal haben werden.

Nach zwei Stunden hatten wir es tatsächlich geschafft, ein System zu entwickeln. Na ja, "System" ist vielleicht übertrieben. Wir haben kleine Boxen genommen – eine alte Pralinenschachtel für Batterien, ein Marmeladenglas für Stifte, eine Keksdose für "Kleinkram". Tom wollte alles beschriften, ich fand das übertrieben. "Wir wissen doch, was wo ist", sagte ich. Berühmte letzte Worte.

Die Wahrheit ist: Eine Woche später weiß ich schon nicht mehr genau, was in welcher Box ist. Aber wisst ihr was? Es ist trotzdem besser als vorher. Viel besser. Ich finde Sachen wieder. Nicht auf Anhieb, aber schneller als früher. Und das Beste: Die Schublade geht wieder richtig zu. Vorher musste man sie immer ein bisschen ruckeln, damit sie zuging.

Gestern Abend, während ich kochte, musste ich wieder an diese Aufräumaktion denken. Nicht wegen der Schublade selbst, sondern wegen dem, was dabei passiert ist. Tom und ich, wir haben drei Stunden zusammen in der Küche verbracht. Ohne Fernseher, ohne Handys (okay, fast ohne Handys – Tom musste zwischendurch das Fußballergebnis checken). Wir haben geredet, gelacht, uns an Sachen erinnert, die wir fast vergessen hatten.

In Japan gibt es dieses Konzept von "Wabi-Sabi" – die Schönheit des Unperfekten. Unsere Schublade ist definitiv nicht perfekt. Die Pralinenschachtel hat immer noch Schokoladenflecken, das Marmeladenglas klebt ein bisschen, und in der Keksdose liegt alles durcheinander. Aber es ist unsere Unordnung. Unsere Geschichte.

Tom meinte gestern, wir sollten das öfter machen. "Was, die Schublade ausräumen?", fragte ich erschrocken. "Nein", lachte er, "zusammen irgendwas Blödes machen und dabei quatschen."

Er hat recht. Im Alltag vergisst man das so leicht. Man lebt nebeneinander her, jeder in seiner Routine gefangen. Morgens schnell Kaffee, abends müde aufs Sofa, am Wochenende Erledigungen. Wann nimmt man sich schon mal Zeit, einfach zusammenzusitzen und über Gott und die Welt zu reden? Bei uns brauchte es dafür eine überquellende Küchenschublade.

Die Forschung zeigt übrigens, dass Paare, die zusammen lachen, glücklicher sind. Klingt banal, ist aber so. John Gottman, dieser berühmte Beziehungsforscher, sagt, dass man an der Art, wie ein Paar über gemeinsame Erinnerungen spricht, vorhersagen kann, ob sie zusammenbleiben. Wenn sie liebevoll und mit Humor zurückblicken, stehen die Chancen gut. Wenn sie nur noch genervt sind, wird's schwierig.

Bei uns war es definitiv mehr Lachen als Genervtsein. Okay, es gab diesen Moment, als Tom meinte, wir könnten doch alle alten Kassenzettel wegwerfen. Alle! Auch die vom Baumarkt! "Was, wenn wir was umtauschen müssen?", fragte ich. "Nach drei Jahren?", konterte er. Touché.

Übrigens haben wir beim Aufräumen auch drei Schlüssel gefunden. Drei! Keiner von uns weiß, wozu sie gehören. Tom wollte sie wegwerfen, aber ich hab mich durchgesetzt. Man weiß ja nie. Vielleicht erinnern wir uns irgendwann. Oder wir finden das Schloss dazu. Oder sie werden zu Familienmysterien, über die noch unsere Enkel rätseln werden.

Das Foto vom Stadtfest haben wir übrigens nicht zurück in die Schublade gelegt. Es hängt jetzt am Kühlschrank, festgehalten von einem Magneten aus unserem letzten Urlaub. Jedes Mal, wenn ich daran vorbeigehe, muss ich schmunzeln. Nicht nur wegen Toms Schnurrbart, sondern weil es mich daran erinnert, wie wir waren. Unbekümmert, ein bisschen naiv vielleicht, aber voller Enthusiasmus.

Neulich kam Sarah zu Besuch – die mit der aufgeräumten Küche. Sie sah unsere Schublade, die immer noch nicht perfekt ist. "Ihr habt ja gar kein richtiges System", stellte sie fest. Stimmt. Haben wir nicht. Aber wir haben was anderes: eine Schublade voller Geschichten. Und einen Haufen Zahnstocher, falls mal jemand welche braucht.

Tom sagt, in drei Monaten sieht die Schublade wieder aus wie vorher. Vielleicht hat er recht. Studien zeigen, dass 80% aller Aufräumaktionen nicht nachhaltig sind. Menschen fallen in alte Muster zurück. Aber wisst ihr was? Dann räumen wir sie halt nochmal aus. Und finden wieder Sachen, über die wir lachen können. Vielleicht sogar neue Schlüssel, von denen wir nicht wissen, wozu sie gehören.

Letzte Nacht lag ich wach und dachte über all das nach. Über Schubladen und Schnurrbärte, über Wabi-Sabi und Waschbären. Tom schnarchte leise neben mir, und ich musste lächeln. Unser Leben ist wie diese Schublade – ein bisschen chaotisch, nicht immer logisch organisiert, aber voller kleiner Schätze. Man muss nur manchmal ein bisschen wühlen, um sie zu finden.

Heute Morgen habe ich übrigens einen neuen Stift in die Schublade gelegt. Direkt ins Marmeladenglas, ganz ordentlich. Tom hat's gesehen und nur gegrinst. "Gib ihr zwei Wochen", hat er gesagt. Wetten läuft.

Ach ja, falls ihr euch wundert: Den Flaschenöffner, den ich ursprünglich gesucht hatte? Den haben wir beim Aufräumen tatsächlich gefunden. Er lag in der Besteckschublade. Wo er hingehört. Die ganze Zeit. Tom meint, ich hätte einfach nicht richtig geguckt. Ich sage, er hat ihn heimlich dahin gelegt, als ich nicht hingesehen habe. Die Wahrheit werden wir wohl nie erfahren. Ist vielleicht auch besser so. Manche Mysterien sollte man bewahren. Genau wie alte Fotos. Und einzelne Schnürsenkel. Und Schlüssel, von denen keiner weiß, wozu sie gehören.